Anthropozän drängt zur Bündelung von Kompetenzen
Welche Folgen hat der rapide zunehmende Einfluss der Menschen auf das Erdsystem, und wie wirken diese sich auf die Menschen aus? Wie lassen sich unabsehbare Risiken vermeiden und zugleich Wohlstand, wirtschaftliche Entwicklung und Gerechtigkeit ermöglichen? Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen aus den Einrichtungen der Leibniz-Gemeinschaft starteten dazu eine Initiative für eine „Integrierte Erdsystemforschung“. Gemeinsam mit Partnern aus Deutschland, Europa und weiteren Ländern werden sie das aktuelle, stark durch die Menschen geprägte Erdzeitalter in einer bisher nicht dagewesenen Weise koordiniert und interdisziplinär untersuchen. (Grafik: Kippschalter im Erdsystem – © PIK-Potsdam)
Der Einfluss der Menschheit auf das über Jahrmillionen entstandene Erdsystem nimmt rapide zu – und mit ihm die offenen Fragen über die Folgen für Erde und Menschen. So schreitet nicht nur die globale Erwärmung mit all ihren Folgen unvermindert fort. Vielmehr geht zugleich die Biodiversität weltweit zurück, die Verschmutzung der Ozeane breitet sich aus, Wasser wird vielerorts immer knapper, und Schadstoffe reichern sich in Böden, Luft und Gewässern an. Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft stehen dadurch vor gewaltigen Herausforderungen. Alleine der Klimaschutz und die Anpassung an den unvermeidbaren Klimawandel erfordern bereits erhebliche Anstrengungen über mehrere Politikfelder und Branchen hinweg. Wie soll mit den noch viel umfassenderen Umweltproblemen des Anthropozäns umgegangen werden – dem jetzigen Erdzeitalter, in dem die Menschen einen starken Einfluss auf das Erdsystem erlangt haben?
Dieser Frage haben sich am 29. und 30.06.2021 Wissenschaftler aus zahlreichen Leibniz-Einrichtungen bei der virtuellen Konferenz „Integrated Earth System Research – Challenges, Approaches and Impacts“ gestellt. Angesichts der gewaltigen Dimension des Problems beteiligten sich nicht nur Expertinnen und Experten der Klima-, Biodiversitäts- und Ozeanforschung, sondern unter anderem auch der Weltwirtschaftsforschung, Raumforschung sowie der internationalen Friedens- und Konfliktforschung. Im Ergebnis der zweitägigen Diskussion wurde deutlich, dass es bisher kaum angemessene integrative Ansätze gibt, ein solch vielschichtiges Phänomen wissenschaftlich zu bearbeiten. Zwar existiert ein umfangreiches Wissen zu einzelnen Prozessen der Veränderung. Dieses ist allerdings noch völlig unzureichend miteinander verknüpft und verwertbar. Damit fehlen wichtige Voraussetzungen, um Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger die Konsequenzen der aktuellen Trends umfassend zu verdeutlichen und alternative, nachhaltige Zukunftspfade der Menschheit auf und mit unserem fragilen Planeten Erde aufzuzeigen. Die anstehenden Entscheidungen sind nach den vorliegenden Vorausberechnungen von zivilisationsgeschichtlicher Bedeutung.
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Konferenz haben vor diesem Hintergrund eine Initiative für eine „Integrierte Erdsystemforschung“ gestartet. Gemeinsam mit Partnern aus Deutschland, Europa und weiteren Ländern wollen sie das Anthropozän in einer bisher nicht dagewesenen Weise koordiniert und interdisziplinär untersuchen. Ein wichtiges Ziel ist es dabei, im Zuge der Forschung mit Akteuren aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft zugleich auch Lösungsansätze zu entwickeln.
„Wir führen mit der Initiative erstmalig globale Modellsimulationen ganz unterschiedlicher Disziplinen zusammen und stellen diese zudem in den Kontext von konkreten gesellschaftlichen Bedarfen und Handlungsmöglichkeiten“, sagt Jochen Schanze, der Leiter der Konferenz. „Unsere Forschungsmission erscheint im Moment vielleicht noch wie die Vision einer Mondlandung in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Alle Beteiligten sind sich jedoch einig, dass das Ausmaß und die Geschwindigkeit der Veränderungen des Erdsystems eine solche Initiative dringend erfordert.“
In den kommenden Monaten wird deshalb schrittweise eine Forschungsplattform etabliert. Die Leibniz-Institute sehen sich dabei als Impulsgeber, während die Plattform allen interessierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern offenstehen wird. Für eine erste Bündelung von Ressourcen haben sich zahlreiche Leibniz-Einrichtungen bereits zum Leibniz Forschungsnetzwerk “Integrierte Erdsystemforschung“ zusammengeschlossen. Die Expertise dieses Netzwerks reicht von der Beobachtung und Modellierung von Prozessen des Erdsystems bis zu den Wirtschafts-, Politik- und Sozialwissenschaften. Den ebenfalls beteiligten Forschungsmuseen kommt neben der wissenschaftlichen Arbeit eine wichtige Funktion für die Vermittlung der Ergebnisse zu.
Zentrale Fragen der künftigen Forschung werden sein: Welche komplexen Wechselwirkungen bestimmen das Erdsystem? Welche Folgen haben die Aktivitäten der Menschen, und mit welchen Risiken an verschiedenen Orten auf der Erde sind diese verbunden? Wie kann eine gerechte Versorgung der wachsenden Weltbevölkerung innerhalb der planetaren Umweltgrenzen aussehen? Welche Innovationen sind hierfür besonders wirksam? Welche gesellschaftlichen Kapazitäten sind erforderlich, um diese zu verwirklichen, wie können sie über verschiedene Raumebenen hinweg aktiviert werden?
Leibniz-Forschungsnetzwerk „Integrierte Erdsystemforschung“
Zum Leibniz-Forschungsnetzwerk „Integrierte Erdsystemforschung“ (iESF) haben sich Leibniz-Institute, -Zentren und -Forschungsmuseen unterschiedlicher fachlicher Disziplinen zusammengeschlossen. Das Netzwerk stellt sich die Aufgabe, für die Gesellschaft handlungsrelevante Erkenntnisse über die Menschen im Erdsystem zu gewinnen. Vor allem die planetaren Grenzen des Erdsystems sollen bestimmt und daraus nachhaltige Entwicklungspfade abgeleitet werden. Das Netzwerk erarbeitet dazu innovative Grundlagen der integrierten Erdsystemforschung.
Leibniz-Forschungsnetzwerke widmen sich einem besonderen Schwerpunktthema oder einer Schlüsseltechnologie. Ziel ist es, die fachlichen und methodisch-technischen Kompetenzen der beteiligten Leibniz-Einrichtungen zu bündeln, auszutauschen, weiterzuentwickeln und nach außen hin sichtbar zu machen. Leibniz-Forschungsnetzwerke werden auf Vorschlag aus der Leibniz-Gemeinschaft vom Leibniz-Präsidium eingerichtet.