EuGH zu OPAL/Nordstream: Energiesolidarität beurteilen

Deutschland unterliegt mit Klage gegen EuG-Urteil

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat laut einer Medienmitteilung vom 15.07.2021 (Solarify dokumentiert Ausschnitte) eine Klage Deutschlands gegen das Urteil des Gerichts der EU zurückgewiesen, mit dem unter Berufung auf den Grundsatz der Energiesolidarität ein Beschluss der Kommission von 2016, der die Bedingungen für den Zugang zur OPAL-Gasfernleitung geändert hatte, für nichtig erklärt worden war. Die Ostseepipeline-Anbindungsleitung (OPAL) ist die westliche terrestrische Anbindung der Gasfernleitung Nord Stream, die Gas aus Russland nach Europa transportiert und dabei die „traditionellen“ Transitländer wie die Ukraine, Polen und die Slowakei umgeht.

Güterzug mit Röhren – Foto © Gerhard Hofmann für Solarify

2009 hatte die Europäische Kommission unter bestimmten Bedingungen die Entscheidung der Bundesnetzagentur genehmigt, die OPAL-Gasfernleitung von den Vorschriften der Richtlinie 2003/55 (später ersetzt durch die Richtlinie 2009/73) über den Zugang Dritter zum Gasfernleitungsnetz und die Entgeltregulierung auszunehmen. Da die Gazprom eine der Bedingungen der Kommission nie erfüllt hatte, konnte es die OPAL-Gasfernleitung seit ihrer Inbetriebnahme im Jahr 2011 nur zu 50% nutzen. 2016 teilte die Bundesnetzagentur nach einem entsprechenden Antrag, der u.a. von Gazprom gestellt worden war, der Kommission ihre Absicht mit, bestimmte Bedingungen der 2009 gewährten Ausnahme zu ändern. Durch die beabsichtigte Änderung sollte im Wesentlichen ermöglicht werden, die OPAL-Gasfernleitung mit ihrer vollen Kapazität zu betreiben, unter der Voraussetzung, dass mindestens 50% der Kapazität in Auktionen verkauft werden.

Mit Beschluss vom 28.10.2016 genehmigte die Kommission diese Änderung unter bestimmten Bedingungen. Polen erhob gegen diesen streitigen Beschluss Nichtigkeitsklage beim Gericht der Europäischen Union. Polen war der Auffassung, dass der Beschluss seine Gasversorgungssicherheit bedrohe, da ein Teil der Erdgasmengen, die zuvor in den mit OPAL konkurrierenden, durch die Staaten Zentraleuropas, darunter Polen, verlaufenden Gasfernleitungen transportiert worden seien, auf den Transportweg Nord Stream/OPAL übertragen werde. Das Gericht gab dieser Klage statt und erklärte den streitigen Beschluss wegen Verstoßes gegen den in Art.194 Abs.1 AEUV verankerten Grundsatz der Energiesolidarität für nichtig. Nach Ansicht des Gerichts hätte die Kommission die Auswirkungen der Änderungen der Betriebsregelung der OPAL-Gasfernleitung auf die Versorgungssicherheit und die Energiepolitik Polens prüfen müssen. Der mit einem Rechtsmittel Deutschlands gegen diese Entscheidung befasste Gerichtshof (Große Kammer) bestätigt das Urteil des Gerichts und äußert sich zu Natur und Tragweite des Grundsatzes der Energiesolidarität.

Würdigung durch den Gerichtshof

  1. Als Erstes hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass nach Art.194 Abs.1 AEUV die Energiepolitik der Union im Geiste der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten folgende Ziele verfolgt: Sicherstellung des Funktionierens des Energiemarkts, Gewährleistung der Energieversorgungssicherheit in der Union, Förderung der Energieeffizienz und von Energieeinsparungen sowie Entwicklung neuer und erneuerbarer Energiequellen und Förderung der Interkonnektion der Energienetze.
    Der Grundsatz der Solidarität stelle einen in mehreren Bestimmungen des EU-und des AEU-Vertrags genannten, tragenden Grundsatz des Unionsrechts dar. Dieser Grundsatz sei eng mit dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verbunden, wonach Union und Mitgliedstaaten einander bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben, achteten und unterstützten. Da der Grundsatz der Solidarität allen Zielen der Energiepolitik der Union zugrunde liege, lasse nichts die Annahme zu, dass er keine verbindlichen Rechtswirkungen erzeuge. Vielmehr beinhalte er Rechte und Pflichten sowohl für die Union als auch für die Mitgliedstaaten, da die Union zur Solidarität gegenüber den Mitgliedstaaten verpflichtet sei und die Mitgliedstaaten zur Solidarität untereinander und gegenüber dem gemeinsamen Interesse der Union.
    Hieraus hat der Gerichtshof den Schluss gezogen, dass entgegen dem Vorbringen Deutschlands die Rechtmäßigkeit aller Handlungen der Unionsorgane auf dem Gebiet der Energiepolitik der Union anhand des Grundsatzes der Energiesolidarität zu beurteilen sei, auch dann, wenn das anwendbare Sekundärrecht, im vorliegenden Fall die Richtlinie 2009/738, nicht ausdrücklich auf diesen Grundsatz Bezug nehme. Folglich ergebe sich aus dem Grundsatz der Energiesolidarität in Verbindung mit dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, dass die Kommission beim Erlass eines gemäß der Richtlinie 2009/73 gefassten Beschlusses zur Änderung einer Ausnahmeregelung eventuelle Risiken für die Gasversorgung auf den Märkten der Mitgliedstaaten prüfen müsse.
  2. Als Zweites hat der Gerichtshof festgestellt, dass der Wortlaut von Art.194 AEUV die Anwendung des Grundsatzes der Energiesolidarität nicht auf Situationen eines Terroranschlags, einer Naturkatastrophe oder einer vom Menschen verursachten Katastrophe beschränke. Vielmehr erstrecke sich der Geist der Solidarität auf alle Maßnahmen der Energiepolitik der Union.
    So manifestiere sich die den Unionsorganen und den Mitgliedstaaten obliegende Pflicht, beim Erlass von Maßnahmen betreffend den Erdgasbinnenmarkt den Grundsatz der Energiesolidarität zu berücksichtigen, indem sie u.a. für die Gewährleistung der Energieversorgungssicherheit der Union Sorge trügen, dadurch, dass sowohl Maßnahmen für Notfallsituationen als auch vorbeugende Maßnahmen erlassen würden. Die Union und die Mitgliedstaaten müssten bei der Ausübung ihrer jeweiligen Zuständigkeiten in diesem Bereich die betroffenen Energieinteressen abwägen und Maßnahmen vermeiden, welche die Interessen der möglicherweise betroffenen Akteure in Bezug auf die Sicherheit und die wirtschaftliche und politische Tragbarkeit der Versorgung sowie die Diversifizierung der Versorgungsquellen beeinträchtigen könnten, um ihrer gegenseitigen Abhängigkeit und faktischen Solidarität Rechnung zu tragen.

Daher hat der Gerichtshof bestätigt, dass das Gericht keinen Rechtsfehler begangen habe, als es entschieden hatte, dass der streitige Beschluss für nichtig zu erklären sei, weil er gegen den Grundsatz der Energiesolidarität verstoße.

->Quelle: curia.europa.eu/p1_3575106