Viele Missverständnisse bei Begriffen rund um den Klimaschutz
-mit freundlicher Genehmigung von Mario Schmidt, Hochschule Pforzheim-
Nach Ansicht von Professor Mario Schmidt, Professor für Ökologische Unternehmensführung an der Hochschule Pforzheim, vergreifen sich selbst Klimaschützer nicht selten in der Wortwahl: „Klimaneutralität bedeutet, dass von menschlichen Aktivitäten keine Auswirkungen mehr auf das Klima ausgehen. So hat es der Weltklimarat definiert. In der öffentlichen Diskussion wird dagegen immer Treibhausgasneutralität gemeint, was etwas anderes ist.“ Das sei keine Haarspalterei: selbst wenn es gelänge, alle Emissionen in Deutschland zu vermeiden, so wären die Auswirkungen auf das Klima doch immer noch beträchtlich:
„Wir schätzen, dass 50 bis 100 % der heutigen Treibhausgasemissionen, die auf dem Gebiet der Bundesrepublik freigesetzt werden, im Ausland nonh einmal durch den Import von Gütern hinzukommen.“ Wollte man auch hier Klimaneutralität erreichen, müssten Importe verboten werden. Schmidt hält denn auch die Fixierung auf rein territoriale Klimaschutzziele für nicht ausreichend: „Wir müssen uns auch um die Materialien und Güter Gedanken machen, die wir importieren und bei uns verbrauchen. Woher kommen sie und können wir damit anders umgehen?“ meint Schmidt in einem aktuellen Artikel.
„Fridays for Future fordert sie; Weltkonzerne proklamieren sie schon jetzt; ganze Städte wollen sie bis 2030 erreichen: die Klimaneutralität. Doch wissen die alle, wovon sie reden? Wahrscheinlich eher nicht, oder es ist ein geschickter PR-Coup, der inzwischen den globalen Sprachgebrauch prägt. Das Bundesverfassungsgericht erwähnt in seinem bahnbrechenden Beschluss zur Klimapolitik über dreißigmal das Wort klimaneutral. Dabei ist dieser Begriff rechtlich gar nicht definiert. Er taucht im Bundesklimaschutzgesetz zwar beiläufig auf, jedoch wird dort die Treibhausgasneutralität bis 2050 proklamiert, das Gleichgewicht zwischen den anthropogenen Emissionen von Treibhausgasen aus Quellen und dem Abbau solcher Gase durch Senken. Der Weltklimarat (IPCC), also die höchste wissenschaftliche Instanz zum Klimawandel, definiert carbon neutrality als globale Netto-Null-CO2 -Emissionen und stellt an deren Seite noch die Netto-Null-Treibhausgas-Emissionen – wohlgemerkt: global betrachtet! Der Treibhausgasansatz geht weiter als nur der Blick auf CO2, hier kommen noch andere Stoffe hinzu. Unter climate neutrality versteht der IPCC schließlich einen ‚Zustand, in dem menschliche Aktivitäten zu keinem Nettoeffekt auf das Klimasystem führen‘, also ein hoher Anspruch, mehr als nur eine Netto-Null- Treibhausgas-Bilanz.
Natürlich kann man eine solche Bilanz aufstellen und versuchen, die Emissionen auszugleichen, was mit all diesen Begriffen offensichtlich gemeint ist. Aber man muss dazu sagen, in welchem Rahmen bilanziert wird. Auf staatlicher Ebene geht es stets um die sogenannten territorialen Emissionen, also das, was auf dem Gebiet Deutschlands unmittelbar freigesetzt wird. Für ein Unternehmen muss man schon dazu sagen, was gemeint ist: Die Emissionen auf dem Betriebsgelände und der eigenen Organisation? Oder zählen auch die mittelbaren Emissionen durch den Strombezug hinzu, also jene, die bei den Kraftwerken (außerhalb der Unternehmensgrenze) freigesetzt werden? Und was ist gar mit den Emissionen der Lieferanten?
Die Frage ist keine Haarspalterei. Sie hat weitreichende Konsequenzen. So kann ein Unternehmen seine Emissionsbilanz schnell auf Null bringen, wenn nur der eigene Standort betrachtet wird und alle emissionsträchtigen Anlagen oder Aktivitäten ausgelagert oder verkauft werden. Dieses Thema wird in Fachkreisen seit vielen Jahren ernsthaft diskutiert. Man unterscheidet zwischen sogenannten Scope-1-Emissionen, das sind die direkten Emissionen des Unternehmens, Scope-2-Emissionen, das sind die mittelbaren Emissionen durch den Energiebezug, und den Scope-3-Emissionen, das sind die sonstigen Emissionen, die durch die Tätigkeit des Unternehmens verursacht werden. Zu letzterem zählen vor allem auch die Emissionsrucksäcke der eingekauften Rohstoffe und Güter, also jene Emissionen, die in der vorgelagerten Lieferkette erfolgen. Bilanziert man über alle drei Scopes, so führen Verlagerungen innerhalb der Wertschöpfungskette zu keinen Scheinverbesserungen in den Emissionsbilanzen. Deshalb sind sie in der Summe die zuverlässigsten Bilanzen.
Auswertungen der vergangenen Jahre zeigen, dass diese Scope-3-Emissionen bei den meisten Branchen den Löwenanteil ausmachen. Im Schnitt sind die Scope-3-Emissionen der Lieferkette dreimal so hoch wie die Summe aus Scope 1 und Scope 2, manchmal sogar noch deutlich höher (Abb. 1). Die Herausforderung für die Unternehmen besteht darin, diese Emissionen in der Lieferkette zu bestimmen. Dazu wären Angaben von den Lieferanten und deren Vorlieferanten erforderlich. Für Unternehmen mit einigen Tausend oder Zehntausend Vorprodukten ist das angesichts der globalen Handelsverflechtungen eine kaum zu bewältigende und insbesondere kaum bezahlbare Aufgabe. Am Institut für Industrial Ecology (INEC) wurde dieses Problem schon vor mehr als 10 Jahren zusammen mit der Firma Witzenmann GmbH mittels volkswirtschaftlicher Input-Output-Analysen gelöst. Das INEC hat nun zusammen mit dem Thinktank Industrielle Ressourcenstrategien am KIT Karlsruhe, dem Beratungsunternehmen Systain Consulting Hamburg und Praxisanwendern, wie z.B. der Robert Bosch GmbH oder der Carl Zeiss AG, die Methode weiterentwickelt und bietet ein Online-Tool an, wie solche Emissionen verlässlich abgeschätzt werden können. Was die betriebliche Klimaneutralität angeht, hat z.B. die Robert Bosch AG sie öffentlichkeitswirksam bereits 2019 angekündigt – für das Jahr 2020. Aber Bosch hat sehr genau nach den Scopes unterschieden und relativiert auf seiner Homepage die Ankündigung für die Scope-3-Emissionen, wohlwissend, welche Herausforderung das darstellt. Denn für diesen Bereich Klimaneutralität zu verlangen, hieße, dies auch weltweit für die Lieferanten durchzusetzen.
‚Bosch ist mit seinen weltweit über 400 Standorten seit 2020 klima- neutral (Scope 1 und 2). Eine unabhängige Prüfungsgesellschaft hat dies offiziell bestätigt. Doch damit nicht genug: Wir wollen den Klimaschutz über unseren unmittelbaren Einflussbereich hinaus gestalten und auch die vor- und nachgelagerten Emissionen (Scope 3) systematisch verringern – bis 2030 sollen sie um 15 % sinken‘ (.bosch.com/de/unternehmen/nachhaltigkeit – 21.5.2021).
Wie sieht es aber mit der territorialen Bilanz für ganz Deutschland aus? Würde man dieses Scope-Konzept aus dem Unternehmensbereich übertragen, dann hätte sich Deutschland – streng genommen – nur dazu verpflichtet, seine Scope-1-Emissionen zu neutralisieren. Deutschland importiert aber jede Menge Waren aus dem Ausland, die im Inland verarbeitet, konsumiert, teilweise auch wieder exportiert werden. Was ist mit dem Klimarucksack dieser Waren? Diese Frage ist von großer industriepolitischer Bedeutung. Die Klimaziele wären nämlich leichter zu erreichen, wenn die Industrie in Deutschland gar keine Emissionen mehr freisetzte – etwa, wenn in Deutschland nicht mehr produziert wird! Die Industrie steht immerhin für ein Viertel der Emissionen in Deutschland. Keine Chemieprodukte oder Autos, kein Stahl, Kupfer oder Zement mehr aus Deutschland. Das wäre aber eine große Mogelpackung, wenn man dann die Waren in Deutschland trotzdem verbraucht und nun aus dem Ausland bezieht. Die Emissionen würden stattdessen an anderer Stelle in der Welt erfolgen. Das wäre keine Klimaneutralität.
Tatsächlich ist der Beitrag der importierten Waren an der Emissionsbilanz Deutschlands schon heute beträchtlich – wenn man nicht nur territorial bilanziert. Das Statische Bundesamt weist Deutschland weitere CO2 -Emissionen durch den Import von Waren zu, die halb so hoch liegen wie die bisherige CO2-Bilanz Deutschlands (siehe Abb. 2). Andere Berechnungen liegen – je nach volkswirtschaftlichem Modell – noch höher.
Importe bislang nie Gegenstand deutscher Klimapolitik
Diese zusätzlichen Emissionen der Importwaren waren bislang nie Gegenstand der deutschen Klimapolitik. Natürlich muss sich Deutschland auf seine internationalen Verpflichtungen konzentrieren, und die vereinbarten Minderungsziele sind nun mal gebietsbezogen. Rechnet man zu den Importrucksäcken noch den globalen Einfluss deutscher Exportwaren hinzu (deutsche Autos emittieren auch im Ausland), so ist der Einfluss Deutschland auf das Weltklima beträchtlich höher als die reinen territorialen Emissionen. Das hört sich schlimm an, könnte aber auch eine Chance für deutsche Produkte sein, wenn sie effizienter und klimafreundlicher wären. Sie könnten dann auch außerhalb Deutschlands zum Klimaschutz beitragen. Falls in Deutschland dann noch Produkte hergestellt werden..
Wenn man von dem engeren Begriff der Klimaneutralität ausgeht, dann müsste sich die deutsche Politik auch um die Klimarucksäcke der importierten Güter kümmern. Oder aber konsequent nur noch von CO2– oder Treibhausgasneutralität auf dem Gebiet Deutschlands sprechen, was schon ambitioniert genug ist. Noch absurder wird die Forderung nach Klimaneutralität, wenn sie auf kleinere Gebiete, auf Städte und Kommunen bezogen wird. Sie würde faktisch eine Autarkie der Gebiete verlangen; Waren mit einem Klimarucksack dürften die Stadtgrenze von außen nicht mehr passieren.
Die Unternehmen sind in gewisser Hinsicht einen Schritt weiter, wenn sie die Scope-3-Emissionen mitbilanzieren und darüber nachdenken, wie sie auch im Einkauf von Gütern Klimaschutz betreiben können. Ein Kilogramm Primäraluminium aus Europa verursacht derzeit ca. 7 kg CO2 -Emissionen, aus China hingegen den dreifachen Wert. Angesichts dieser Zahlen, die sich kaum ganz auf Null drücken lassen, von Klimaneutralität zu sprechen, erscheint trotzdem vermessen. Denn die Abhängigkeit vom Ausland in den Lieferketten wird bestehen bleiben, und es wird noch lange dauern, bis dort alles klimaneutral ist. Selbst die vielzitierte Circular Economy löst dieses Problem nicht, denn auch die Sekundärrohstoffe brauchen zu ihrer Herstellung Energie und verursachen somit noch auf lange Sicht Emissionen.
Aber Klimaneutralität hört sich toll an und lässt sich gut vermarkten. Seit Jahrzehnten wird von Klimaschutz geredet, aber kaum etwas getan. Es fehlt an Ernsthaftigkeit in der Politik und in der Wirtschaft. Mit dem neuen Superlativ beteuert man nun die Ernsthaftigkeit, die von der Jugend und von den Gerichten gefordert wird. Aber ein Wort allein richtet das nicht, zumal die Fakten weitgehend dagegen sprechen. Um Klimaneutralität trotzdem proklamieren zu können, gibt es zwei Wundermittel, zu denen in der Wirtschaft nun verstärkt gegriffen wird: der Einkauf von grünem Strom und die Kompensation von Emissionen durch Geld
Die Anbieter von grünem Strom sind inzwischen unzählbar; es scheint ein lukratives Geschäft zu sein. Was die wenigsten wissen: Wer grünen Strom bestellt, kriegt keinen grünen Strom, sondern den gleichen wie zuvor – aus dem normalen Stromnetz. Es gibt in den Stromleitungen keine grünen und nicht-grünen Elektronen, die fein säuberlich nach Stromtarif sortiert werden. Es ist nur ein bilanztechnischer Effekt: Man bekommt den Strom aus regenerativen Quellen zugerechnet, z.B. aus Flusswasserkraftwerken, Windkraftanlagen oder Photovoltaik-Anlagen, der an anderer Stelle erzeugt und auch verbraucht wird. Wenn man für sich die Nutzung dieser grünen Quelle beansprucht, dann fällt sie aus dem allgemeinen nationalen Strommix weg, d.h. dort sinkt der Anteil regenerativer Energiequellen – unter dem Strich ein Nullsummenspiel. Der Kauf von grünem Strom macht nur Sinn, wenn durch einen deutlich höheren Preis auch in den Ausbau neuer regenerativer Quellen investiert wird. Das muss dann detailliert nachgewiesen werden. Bekäme man zum Beispiel Strom aus Flusswasserkraftwerken angeboten: Die gibt es meistens schon seit Jahrzehnten oder noch länger. Hier werden keine neuen Kapazitäten geschaffen. Die volkswirtschaftliche Wirkung der grünen Stromtarife auf den Anteil der erneuerbaren Energien wird deshalb als gering eingeschätzt.
Ein weiteres Wundermittel ist die Kompensation, was auf den ersten Blick schlüssig erscheint. Wenn man CO2-Emissionen nicht vermeiden kann oder will, zahlt man Geld dafür, dass an anderer Stelle in Minderungsmaßnahmen investiert wird und man damit auf Netto-Null-Emissionen kommt. Hier ist aber die Forderung, dass die Maßnahme zusätzlich sein muss zu den sowieso schon geplanten Minderungsmaßnahmen z.B. des Staates, und dass sie auch garantiert langfristig wirkt und nicht nur eine zeitliche Verschiebung der Emissionen darstellt. Ersteres wird immer schwieriger, da derzeit alles an möglichen Maßnahmen mobilisiert wird, um CO2 einzusparen. Bei vielen Projekten muss man aufpassen, dass keine Doppelzählungen erfolgen oder die Einsparungen mehrmals verkauft werden. Der Markt an geeigneten Kompensationsprojekten wird deshalb in den nächsten Jahren immer begrenzter werden. Die Langfristigkeit hingegen spielt z.B. bei der populären Wiederaufforstungen eine große Rolle, wo Kohlenstoff der Atmosphäre entzogen und im Wald gespeichert wird. Dazu muss der neue Wald aber lange Standzeiten haben. Wer kann das heute schon garantieren? Die Rodung durch einen neuen Waldbesitzer oder ein Waldbrand können das schnell zunichtemachen, bezahlt ist aber schon. Dem Klima nützt das dann nichts. Einzig der Ankauf und die Vernichtung von Emissionszertifikaten macht wirklich Sinn. Damit greift man tatsächlich in die Emissionsmengen bei Kraftwerken und anderen Emittenten ein.
Es wäre also ehrlicher, statt von Klimaneutralität einfach nur von Klimaschutz zu reden, von dem Versuch, alles Mögliche zu unternehmen, die Treibhausgasemissionen deutlich einzuschränken. Dazu gibt es auch im betrieblichen Bereich viele Ansatzpunkte (siehe Abb. 3). Grüner Strom und Kompensation sollten höchstens die letzten Maßnahmen in dieser Kette sein, wenn man unbedingt mit Treibhausgas-Neutralität nach außen werben will. Aber eigentlich sollte die Zeit der vielen Wortkreationen, Proklamationen und sich überschlagenden Zielsetzungen vorbei sein, und endlich die Zeit der Maßnahmen anbrechen. Dem Klima wäre damit mehr geholfen.“
Der Autor: MARIO SCHMIDT ist Professor für Ökologische Unternehmensführung und leitet das Institut für Industrial Ecology. Er ist u.a. Mitglied in den DIN/ISO-Normierungsgremien zu Carbon Neutrality