„Ich will es anders“

Oder: „Unser Lebensstil muss exportierbar, globalisierbar werden“ – Wittenberger Kanzelrede von Klaus Töpfer

Die Wittenberger Kanzelreden schließen an die Tradition der Stadtkirche als besonderer Predigtort an. Seit vielen Jahren werden namhafte Persönlichkeiten aus Kirche, Gesellschaft, Kunst, Kultur, Wissenschaft und Politik eingeladen, um Worte ins Spiel zu bringen und Gedanken zu äußern, die anstoßen und verändern. „Die Kanzelreden in Martin Luthers Predigtkirche wollen anregen und aufregen“ – so der Text der Einladung zur Kanzelrede von Prof. Klaus Töpfer am 15.08.2021.

Der Umweltminister und UN-Umweltprogramm-Direktor a.D. wandelte das Ober-Thema der diesjährigen Kanzelreden „Hier stehe ich…ich kann auch anders“ ab in „Ich will es anders“. Er begann mit einem Vergleich: Zu Luthers Zeiten hätten auf der ganzen Welt 500 Millionen Menschen gelebt – heute stünden wir „kurz vor acht Milliarden.“ Töpfer berichtete über eine Aktivität die Anregung von 150 Bundesverdienstkreuzträgern, eine Kommission einzurichten, um Flucht- und Migrationshintergründe zu untersuchen. Es wurde keine Parlaments-(Enquete-)Kommission daraus, sondern eine Regierungskommission.  Diese erstellte in eineinhalb Jahren intensiver Arbeit einen umfangreichen Bericht und präsentierte ihn im Mai 2021. Doch es folgte kein Medienecho, „das Schweigen ist nicht durchbrochen worden“, ein Schweigen zu einem Problem, das in Wirklichkeit, und davon ist Töpfer überzeugt, bei uns seine erste Ursache hat. „Wir wollen verhindern, dass das Problem zur Statistik-Diskussion verkommt, was der inzwischen gestorbene polnische Soziologe Zygmunt Bauman „die Sünde der Gleichgültigkeit“ genannt habe.

Bauman in einem SPIEGEL-Interview Im September 2016: „Panik, wie wir sie derzeit erleben, endet leicht in einem moralischen Debakel – in der Sünde der Gleichgültigkeit gegenüber den Tragödien und den Hilfeschreien der Leidenden. Schockierende Ereignisse verwandeln sich in die Routine der Normalität. Die Krise wird moralisch neutralisiert: Die Migranten und das, was mit ihnen geschieht oder was man mit ihnen macht, werden nicht länger unter ethischen Gesichtspunkten betrachtet. Sobald die öffentliche Meinung die Flüchtlinge als Sicherheitsrisiko begreift, stehen sie außerhalb des Bereichs der moralischen Verantwortung. Sie werden enthumanisiert, objektiviert, außerhalb des Raumes gestellt, in dem Mitgefühl und Solidarität als geboten empfunden werden.“

Die Regierungskommission unter dem Titel „Krisen vorbeugen, Perspektiven schaffen, Menschen schützen“ hielt in ihrem „Bericht der Fachkommission Fluchtursachen der Bundesregierung“ 15 Punkte in einem Handlungsprogramm zur Forderung an den neu zu wählenden Deutschen Bundestag fest. Immer wieder wird herausgearbeitet, dass diese Ursachen: Krieg – Verfolgung – Not und Perspektivlosigkeit auch von den Menschen in den sog. „hochentwickelten Staaten“ mitverursacht werden. Ein „Rat für Frieden, Sicherheit und Entwicklung“ soll eingerichtet werden. Frühwarnsysteme für Krisen müssen genutzt werden, um Fluchtbewegungen ursächlich zu vermindern. Entwicklungsperspektive und Lebensgrundlagen für Menschen müssen eröffnet werden – Ernährung, Bildung, inklusive Stadtentwicklung, die gesellschaftliche Gleichstellung der Frauen. Vor allem: Klimawandel, als Treiber von Flucht, Vertreibung und irreguläre Migration ist aufzuhalten.

Das Pro-Kopf-Einkommen betrage in Afrika (acht Jahre lang war Töpfers UN-Arbeitsplatz Nairobi) 2.000 Dollar – in Deutschland seien es knapp 50.000. Das Durchschnittsalter dort betrage 18-19 Jahre (bei uns fast 50) – „diese Menschen brauchen es dringend, dass wir uns Gedanken machen“. Dabei berichtete er von seinen Erfahrungen. Die Menschen dort sagen: „Ihr sagt uns immer, was wir nicht tun sollen – Kohle, Öl und Kernenergie nutzen. Dabei habt Ihr mit der Nutzung dieser Energien Euren Wohlstand aufgebaut.“ Die müssten nicht aus unseren Fehlern lernen, dagegen sei es unsere Verpflichtung, nach Technologien zu suchen, die „globalisierungsfähig“ seien – ebenso wie unsere Lebensweise.

Töpfer. „Es ist festzuhalten: Unser Lebensstil ist nicht globalisierungsfähig. Umso ärgerlicher ist es, dass man in Grundsatzprogrammen, in Wahlkampfaufrufen aller Parteien das Wort Suffizienz, den Aufruf nach einer ’neuen Bescheidenheit‘, nach einer ‚Ethik des Genug‘ nicht findet.“ Das Motto „Genug ist genug“ gehöre in jedes Wahlprogramm – in diesem Zusammenhang verwies Töpfer (in Luthers Kirche!) auf die Enzyklika „Laudato sí“ von Papst Franziskus: Der Markt könne die Ungerechtigkeit nicht lösen.

Die Konsequenz dürfe nicht im Abschotten bestehen. „Mauern entstehen überall dort, wo sich Gegensätze und Widersprüche miteinander nicht austauschen oder ausgleichen können.“ Auch Trumps Mauer im Süden der USA habe solche Ursachen. Wir sollten nicht weiter versuchen, die Wirkungen abzuschalten, sondern die Ursachen. „Nachhaltigkeit kann eine der entscheidenden Grundlagen für Frieden werden“. Kernenergie sei nicht globalisierungsfähig, weil nicht fehlerfreundlich. „Techniken, die keine Fehler zulassen, sind unmenschlich und demokratieunfähig.“ Wir müssten darüber nachdenken, wie wir unseren Lebensstil so ändern, dass er exportierbar werde.

Töpfer rief dazu auf, von der Kultur der anderen zu lernen. Als Beispiel nannte er die Gottesdienste in einem Elendsviertel von Nairobi, die er besucht habe – „drei Stunden, das will ich nicht für hier empfehlen, hier denkt man ja nach einer Stunde an den Sonntagsbraten“ – aber selten habe er vergleichbar Beeindruckendes erlebt.

Es brauche zudem eine Rückbesinnung auf echte Wissenschaft: Da gehe es nicht um Wahrheiten, sondern um Falsifizierung. Karl Popper habe gelehrt, dass richtiges wissenschaftliches Verhalten sei, eine Hypothese aufzustellen und alles zu versuchen, sie zu widerlegen. Außerdem müsse man bedenken, ob der Nobelpreisträger und langjährige Direktor des Max-Planck-Instituts für Chemie in Mainz, Paul Crutzen, mit seiner Feststellung Recht hatte, wir lebten längst im Anthropozän, welches das Holozän abgelöst habe. Gleichzeitig müsse dem Glauben entgegengewirkt werden, irgendwann sei alles erforscht. Töpfer zitierte aus Hubert Markls „Wissenschaft gegen Zukunftsangst“: Es sei falsch, über die Grenzen der Wissenschaft zu sinnieren – „wir wissen ja noch gar nicht, was wir alles nicht wissen“.

Töpfer forderte ein globales Frühwarnsystem, eine weltweite Initiative – nicht Abschottung, nicht Mauern, nicht „gated communities“, wie sie schon in manchen Städten Realität sind. Die Zahl 8 Milliarden Menschen fordere „gebieterisch“ jeden einzelnen von uns auf, darüber nachzudenken, wie konfliktträchtig unsere Lebensweise sei, wie wir zu Suffizienz fänden.

Töpfer wörtlich: „Mein langjähriger Chef, UN-Generalsekretär Kofi Annan, hat festgestellt: ‚Wohlstand, aufgebaut auf der Zerstörung der Umwelt, ist kein wirklicher Wohlstand. Bestenfalls eine kurzfristige Milderung der Tragödie.‘ Es wird keinen Frieden, wohl aber mehr Armut geben, falls dieser Angriff auf die Natur anhält. Die ökologische Aggression und die soziale Exklusion – sie finden sich im Bruttosozialprodukt als Wohlstandsindikator nicht wieder. Eine neue Bescheidenheit, eine Ethik des Genug wird nicht durch die Gesetze der Märkte Realität.“ Weil das aber der Markt nicht gewährleisten könne, brauche es klare ordnungspolitische Direktiven: Töpfer forderte „eine ethische und gesellschaftlich getragene staatliche Ordnungspolitik. Begrenzungen sind Gebote, qualifizieren einen freiheitlichen, parlamentarischen, demokratischen Staat.“

Abschließend zitierte der Kanzelredner den Verfasser des im vorangegangenen Gottesdienst gesprochenen Glaubensbekenntnisses, Dietrich Bonhoeffer: „Ich glaube, dass Gott kein zeitloses Fatum ist, sondern dass er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet.“ Töpfer: „Lassen wir ihn nicht zu lange warten!“

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