Buch: Der Holzweg

„Kampfansage für den Wald“

Vor lauter Holz sehen wir den Wald nicht mehr. In einer Gesellschaft, die Rentabilität allem voranstellt und “Werte” Feiertagsreden vorbehält, ist das nicht erstaunlich. Aber tragisch. Wir bilden uns ein, über den Wald viel zu wissen, denn allzu gerne bestaunen wir die Pracht der Bäume auf sonntäglichen Spaziergängen. Dann durchströmt uns ein diffuses Wohlbefinden und wir versichern einander, dass Wald gesund ist für den Menschen. Die Japaner nennen das Shinrin Yoku, “die Atmosphäre des Waldes aufnehmen” – übersetzt schlicht “Waldbaden”. Im Buch „Der Holzweg – Wald im Widerstreit der Interessen“ gibt der oekom-verlag besorgten und kritischen Stimmen zur Situation des Waldes in Deutschland Raum. 36 fachlich ausgewiesene Autoren legen ihre Einsichten und praktischen Erfahrungen in aller Klarheit dar. Vor allem der öffentliche Wald muss mit der ihm gesetzlich auferlegten Vorbildfunktion der Daseinsvorsorge Natur und Menschen dienen. Walter Tauber hat das Buch am 18.08.2021 rezensiert.

Wald ist schön, gut und erfreulich – und er bedeckt ein Drittel der Fläche Deutschlands, eines der waldreichsten Länder Europas. Also alles prima?

Weit gefehlt. Trotz einer Heerschar hoch ausgebildeter Forstwirte machen wir allzu viel falsch. Der Wald trocknet aus, wird von Ungeziefer zerfressen und von Stürmen niedergewalzt. Schuld soll der Klimawandel sein. “Wir helfen den Waldbesitzenden effektiv, unkompliziert und schnell, neue widerstandsfähige und standortangepasste Mischwälder zu pflanzen und die Wälder damit besser an den Klimawandel anzupassen,” beschwichtigt Julia Klöckner, die für Landwirtschaft und Wald (aber vor allem für Agrarindustrie) zuständige Ministerin.

Anpassen ist das Schlüsselwort der Macher, die ihr Tun meist selber nicht verstehen. Niemals passen wir uns der Natur an, wir unterwerfen sie. Denn sie muss – oberstes Gebot unserer Gesellschaft – möglichst rentabel sein. Und eine rationale Anpassung besteht nach dieser Logik ausschließlich aus Maßnahmen, mit denen sich fett verdienen lässt. “Mischwälder pflanzen” ist nur gut, wenn das auch einträgliche Investition bedeutet.

Dieses Buch ist ein Weckruf. Ein mit schönen Farbfotos großzügig illustriertes Handbuch, ein Kompendium, in dem jede und jeder einführendes und fortgeschrittenes Wissen finden wird. Hier geht es um Ökologie, um Bäume und um die Lebewesen, die mit ihnen zusammenleben. Es geht aber auch um Politik und, natürlich um Wirtschaft, die Treiberin dieser Politik. Vor allem ist dieses Buch, so die Herausgeber, eine “Kampfansage an verfehlte Forstpraktiken”. In 29 gut lesbaren und reichlich mit Quellenangaben versehenen Beiträgen legen die Autorinnen und Autoren, Experten in ihrem Bereich, ihre vielfältigen Erfahrungen dar. Und sie ziehen die notwendigen Schlüsse unverblümt und ohne Rücksicht auf die Politik.

Schon im Geleitwort fasst es Michael Succow zusammen: Das Problem sei die “gesteigerte Nutzungsintensität, ein alleiniges Orientieren auf den zu steigernden Holzertrag.” Und die Lösung: “Es gilt, die sich vielfältig in langen Zeiträumen entfalteten Wälder als sich selbst optimierende Ökosysteme zu begreifen und sie entsprechend zu behandeln.” Und: “Ausnahmslos gilt es im Tiefland die von Koniferen geprägten Kunstforste in Laubwälder zu überführen und dabei die freie Sukzession zuzulassen.” S.11). Die Abkehr von der Holzplantage, die nur dazu dient, Regale, Papier oder Brennholz zu produzieren, ist dringend notwendig. Denn die wirklichen Funktionen des Waldes “als Kühler, Wolkenbildner, Sauerstoffproduzenten, Humusbildner sind für das Gemeinwohl von unschätzbarem Wert.” S.13).

“Deutschland ist ein Waldland…” so Hans Dieter Knapp, und verlangt “einen grundsätzlich andren Umgang mit Wald, es geht um eine schon vor Jahrzehnten geforderte Waldwende.” Denn “Wälder sind das bedeutendste terrestrische Ökosystem auf unsere Erde.” S.18).

Der Holzweg bietet in fünf Abschnitten ein breites Panorama über die Lage des Waldes in Deutschland. Im ersten Teil geht es zunächst um den Konflikt mit Geschichte S. 17-102). Diese sieben Kapitel geben einen tiefen Einblick in die Geschichte des Waldes und vor allem des Umgangs mit dem Wald. Denn Streit um Wald gab es in Deutschland schon mindestens seit dem 19. Jahrhundert. Es ist erschütternd zu lesen, wie sich die Forstwirtschaft, die nur auf kommerzielle Nutzung von Holz aus ist, gegen Naturschutz und Ökologie stellt und immer gestellt hat. Trotz steigender wissenschaftlicher Erkenntnis setzt sich die zerstörerische Keule der Wirtschaft durch. Was die Forst- und Holzlobby als Wissenschaft feilbietet entlarvt Hans Bibelriether als “Forst- und Holzmärchen.” Die Holzverbände verhindern “mit fadenscheinigen Argumenten die Ausweisung von großflächigen Naturwaldreservaten und Nationalparken.” S.55). Ein wenig ist geschehen in den letzten Jahrzehnten, aber “Waldwildnisflächen nehmen heute (2000) allerdings erst 2,3 Prozent der deutschen Wälder ein.” S.57).

In den vier folgenden Kapiteln geht es um den Wald als vernetztes Ökosystem S. 103 – 162). Da lernen wir faszinierende Tatsachen, etwa dass man Wälder am besten sich selber überlässt (im Kapitel Die Kunst des Nichtstuns). Die Heilungskräfte der Natur, und vor allem eines so komplexen, vernetzten Systems wie der Wald, sind erstaunlich. Etwa nach Sturmschäden abzuräumen und mit exotischen Baumarten (meist einträglichen Koniferen) neu zu bepflanzen ist nicht nur sinnlos, es ist schädlich.

Im Abschnitt Wald im Klimawandel S. 163 – 254) geht es um die zentralen Fragen der heutigen Krise. Die Politik hat, angeblich zum Schutz vor der Krise, “aus unseren Wäldern Holzfabriken gemacht.” (so Norbert Panek, s. 163). Die aufwändige Bundeswaldinventur war laut Panek “eine beispiellose interessengesteurte Verschleierungs- und Beschönigungskampagne der Forst- und Holzlobby” S. 163). Eine Grundsatzdebatte findet nicht statt, der Waldgipfel von 2019 hat nur eines klar gemacht: “Der Wald soll weiter Holz produzieren. Und alles andere hat sich diesem Ziel unterzuordnen.” S. 164).

Dem Abschnitt Wald und Zivilgesellschaft S. 255 – 332) steht ein Zitat des russischen Dichters Lew Tolstoi voran: “Mancher geht durch den Wald und sieht dort nichts als Brennholz.” Tatsächlich wird ein Drittel des in Deutschland geschlagenen Holzes verbrannt. Das Kapitel Die Magd des Holzmarktes beschreibt die Auflehnung der Zivilgesellschaft gegen den Holzkommerz. Immer mehr Bürger beschweren sich über den brutalen Holzschlag. 70 Tonnen schwere Maschinen verletzen den Waldboden irreparabel. Ihre Rückegassen zum Abtransport des Holzes nehmen bis zu einem Fünftel der Wirtschaftsfläche ein (Foto s. 329). Am 31. Mai 1990 urteilte das Bundesverwaltungsgericht, dass im öffentlichen Wald die Prioritäten anders zu setzen seien: “Die Bewirtschaftung des Körperschafts- und Staatswaldes…dient der Umwelt- und Erholungsfunktion des Waldes, nicht der Sicherung von Absatz und Verwertung forstwirtschaftlicher Erzeugnisse.” In ganz Deutschland haben sich in den letzten 15 Jahren, neben Greenpeace, BUND oder Robin Wood, Bürgerinitiativen gebildet, die sich 2017 in der BundesBürgerInitiative Waldschutz (BBIWS) vernetzt haben. Ob die Mobilisierung der Zivilgesellschaft erfolgreich sein kann, bevor der letzte Wald zerstört wird, ist ungewiss. “Wenn auch aus dem Bundesumweltministerium Zustimmung kommt, so prallen all die ökologisch und sozial begründeten Kritiken und Forderungen seit 15 Jahren am CDU/CSU-Reigen der Landwirtschaftsminister(innen) ab” (S. 262). Kahlschläge, durch Maschinen zerstörte Waldwege oder Berge von Laubholzschnitzel zum Export bereit im Hamburger Hafen – die Bilder im Buch unterstreichen den Raubbau, den Waldschützer beklagen.

Zum Glück gibt es auch Lichtblicke, wie im Abschnitt Waldwende im Wirtschaftswald (S. 333-402), in dem die Autoren Erfahrungen aus Lübeck oder Göttingen sammeln und der Frage nachgehen, wie Ökonomie durch Ökologie zu schaffen ist. Oder wie Wald überhaupt wächst. Ein Kapitel ist direkt an Waldbesitzer gerichtet als “Kurzleitfaden”: Wie baut man einen Dauerwald?. Allen voran schaffte es Lübeck, seinen Stadtwald zum “Bürgerwald” zu machen. Ein neuer Forstamtsleiter beendete 1986 die Kahlschläge, verzichtete auf Pestizide und setzte Pferde statt Maschinen ein (S. 333). Greenpeace unterstützte den Wandel: “Dieser Schulterschluss von Greenpeace mit dem Stadtforstamt Lübeck wurde von den Vertretern der traditionellen Forstwirtschaft als Verrat und unzureichende Sachkenntnis interpretiert” (S. 337). Auch die forstliche Wissenschaft reagiert abweisend. Doch das Konzept einer naturnahen Waldpflege und Nutzung war erfolgreich und wurde im Lauf der Jahre von anderen (noch zu wenigen) nachgeahmt. Das Lübecker Waldkonzept gibt es seit über 30 Jahren. Es hat sich bewährt als Referenz für Forstpolitik und Bürgerbeteiligung (S. 345). Aber trotz des Erfolges ist es der mit der Politik eng verfilzten Forstwirtschaft gelungen, einen breiten Wandel im Land zu verhindern.

Tun und/oder lassen? Das ist eine Grundsatzfrage, die herkömmliche Forstwirtschaft radikal untergräbt. Im Abschnitt Wald und Wald(natur)schutz (S. 403 – 460) geht es um die Frage, was man tun kann und was man lieber lassen sollte, um den Wald als einzigartiges Ökosystem zu erhalten. In “12 Thesen” fassen die Herausgeber dieses Bandes zusammen, was sie und ihre AutorInnen an Erkenntnissen zusammengetragen haben. Sie gehen klar gegen den Unsinn vor, den Ministerin Julia Klöckner gerne von sich gibt: “Eine stärkere Nutzung von Holz als Baustoff bindet langfristig CO2”. Dagegen die Herausgeber von Der Holzweg: “Das propagieren von vermehrtem Holzverbrauch als Maßnahme zum Klimaschutz ist unverantwortlich und gefährlich, da es der Ausplünderung von Wald Vorschub leistet…” (S. 459)

Die Betonkopf-Haltung von Staat und Wirtschaft führt die Herausgeber zu folgendem Schluss: “Das Beharren auf veralteten Erkenntnissen und die teils aggressive Abwehr und Ignoranz von Forstwissenschaft und Politik gegenüber ökologischen Erkenntnissen über Wald als sehr komplexes Ökosystem ist nicht nachvollziehbar und vielleicht nur soziopsychologisch erklärbar.”

Profitmaximierung ist ein Irrweg (wer sich mit Renten oder Gesundheit oder irgendwelchen anderen einst rein öffentlichen Diensten befasst, die zu den Pfeilern des Sozialstaates gehören, kann davon ein Lied singen). Die Herausgeber des Buches Der Holzweg: “Wir erleben nicht eine Krise des Waldes, sondern eine Krise des Systems Forstwirtschaft.” (S. 460).

Das Buch endet mit einem Aufruf, mit der Waldallianz (S. 461ff), die einen Paradigmenwechsel herbeiführen soll. Die Allianz wurde im Februar 2020 auf Anregung von Greenpeace gegründet. “Grundlage dieser Arbeit sind der Erwerb, die Pacht und/oder die Bewirtschaftung von Wäldern.” (S. 463). Es folgt eine kurze Anleitung, wie die gewonnenen Erkenntnisse umgesetzt werden sollen. Interessant ist die Liste “Generell verboten” – denn da steht alles, was die von der Politik geförderte Forstindustrie heute tut: Kahlschlagen, zerstören, vergiften, entwässern und vieles mehr.

Nachwort: Zwei Kapitel in diesem Buch gehen auf die letzten Urwälder in Europa ein, Laubwälder in den Karpaten (vor allem in Rumänien – S. 277 ff). Die erleiden heute massive Kahlschläge mit der Hilfe korrupter Behörden und skrupelloser Konzerne. Aber es ist allzu leicht, mit dem Finger auf korrupte Rumänen zu zeigen. Denn dieses Holz wird geschlagen, um als Pellets verfeuert zu werden. Das soll angeblich “grün” sein. Es wird ja „nur Abfallholz” zu Pellets verarbeitet, heißt es, eine der dreistesten Lügen in einer Branche, die von Lügen zu leben scheint. Über dieses widerliche Greenwashing haben wir schon 2019 berichtet: wikistade.org/besonders-widerlich. Damals ging es um Urwälder in den USA, die in Großbritannien verfeuert und durch die Schlote des Konzerns Drax in die Luft gingen und noch gehen. Jetzt geht es auch hier los. In Cuxhaven und in Wilhelmshaven sollen Kraftwerke Holz verstromen. Konzerne wie RWE haben erkannt, wie sie ihre Kohlemeiler noch jahrelang in Betrieb halten können – und zum Teufel mit der Umwelt und dem Klima. So lange die EU das als “grün” einstuft, dann her mit dem Holz. Nach uns die Sintflut.

Verantwortung: Wer ist korrupter? Der rumänische Beamte, der ein Auge (oder beide) zudrückt oder der Konzern, der das alles (inklusive den Beamten) finanziert? Oder wir, die immer wieder dieselben Politiker wählen, die seit Jahrzehnten durch Energie, Landwirtschaft oder Verkehr die Natur verschandeln und jeden ökologischen Fortschritt untergraben? Laut SPIEGEL ist CDU-Politiker Frank Berghorn (Fraktionsvorsitzender im Kreistag Cuxhaven) für das Holz-Kraftwerk-Projekt verantwortlich. Auch der erzählt das übliche Märchen: Holz sei “klimaneutral” da es nachwachse. Und überhaupt werde nur “Abfallholz” verwendet. Kann jemand es so weit bringen in der Politik und an solche Märchen glauben? Unfassbar. Unfassbar widerlich.

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