Neues Handbuch
Wärmenetze sind zentrale Hebel für den Klimaschutz im Gebäudesektor. Um dort erneuerbare Energien und Abwärme optimal einbinden zu können, müssen die Temperaturen in den Netzen gesenkt werden. Das Fraunhofer IEE hat in enger Kooperation mit dem AGFW (Energieeffizienzverband für Wärme, Kälte und KWK) und zusammen mit europäischen Forschungspartnern ein Handbuch darüber erstellt (und am 08.09.2021 , wie bestehende Fernwärme-Systeme umgerüstet und neue Niedertemperatur-Netze geschaffen werden können. Dabei stellen die Experten sowohl die technische als auch die ökonomische Seite dar. Zahlreiche Fallbeispiele belegen: Niedertemperatur-Fernwärme ist unter vielerlei Bedingungen technisch machbar – und wirtschaftlich sinnvoll.
Das Handbuch ist im Rahmen des „TS2 Annex“ des Technology Collaboration-Programme zu Fernwärme und -kälte der Internationalen Energie-Agentur IEA entstanden. Bei diesem Projekt haben Forschungsinstitute aus Dänemark, Deutschland, Großbritannien, Norwegen, Österreich und Schweden zusammengearbeitet. Aus Deutschland haben sich hier neben dem Fraunhofer-Institut für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik (IEE) die Universität Kassel und die Technische Universität Darmstadt engagiert. Auch die Hochschule für Technik Stuttgart hat Fachwissen beigesteuert. Der Fernwärmeverband AGFW hat das Projekt unterstützt. Die englischsprachige Fassung des Handbuchs ist in gedruckter Form im Fraunhofer Verlag erschienen.
„Die Klimaziele im Gebäudesektor lassen sich nur mit Hilfe der Niedertemperatur-Fernwärme erreichen. Unser Handbuch weist den Weg dahin: Es zeigt Versorgern, der Politik und anderen Interessierten, wie sich solche Netze unter unterschiedlichsten Randbedingungen realisieren lassen“, sagt Dietrich Schmidt, Abteilungsleiter Strom-Wärme-Systeme am Fraunhofer IEE.
Heiko Huther, Leiter Forschung & Entwicklung des AGFW, begrüßt ebenfalls die Fertigstellung des Handbuchs. „Die Temperaturabsenkung ist für die Einbindung erneuerbarer Energien in Fernwärme-Netze ein wichtiges Thema. Die hier gesammelten Case Studies vermitteln Erfahrungswerte und helfen so bei der weiteren Entwicklung.“ Diese werde der AGFW auch in Zukunft unterstützen.
Viele Vorteile gegenüber der Hochtemperatur-Fernwärme
Bislang ist die Fernwärme in Deutschland, wie in den meisten anderen Ländern Europas, überwiegend fossilen Ursprungs. Im Zuge der Dekarbonisierung müssen Erdgas und Kohle als Wärmequellen durch erneuerbare Energien und Abwärme ersetzt werden. Deren Temperaturniveau ist jedoch in der Regel niedriger als das der Wärme, die in den fossil befeuerten Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen erzeugt wird. In bestehende Hochtemperatur-Wärmenetze lässt sie sich deshalb nur mit Schwierigkeiten einspeisen.
Es gilt also, die vorhandenen Fernwärme-Systeme so umzubauen, dass sie mit niedrigeren Temperaturen betrieben werden können – und zugleich neue Niedertemperatur-Wärmenetze aufzubauen. „Die Klimaziele verlangen, den Anteil der Fernwärme an der Heizenergie in Deutschland bis 2030 etwa zu verdoppeln. Wir brauchen daher viele neue Netze“, erläutert Schmidt.
Die Experten zeigen im Handbuch, dass solche auf durchschnittliche Temperaturen von unter 70 Grad ausgelegten Wärmenetze gegenüber den Hochtemperatur-Systemen zahlreiche Vorteile haben. So stehen den Versorgern dann deutlich größere Mengen an nutzbarer Abwärme sowie an Wärme aus geothermischen Quellen zur Verfügung. Wärmepumpen arbeiten effizienter, wenn sie ein geringeres Temperaturniveau bereitstellen müssen; die Effizienz von Solarthermie-Anlagen steigt. Auch können die Versorger für die Leitungen gegebenenfalls flexible Kunststoff- statt Stahlrohre verwenden. Nicht zuletzt werden vorhandene Rohre entlastet, wenn die Temperaturen gesenkt werden. Insgesamt summieren sich die potenziellen Einsparungen europaweit auf 14 Milliarden Euro pro Jahr, haben die Wissenschaftler errechnet.
Keine Abstriche beim Komfort
In einem weiteren Kapitel legen die Experten dar, dass Gebäude sehr gut mit niedrigeren Versorgungstemperaturen zurechtkommen. So zeigen die untersuchten Fallbeispiele, dass die Temperaturen in aller Regel ausreichend sind, um Legionellen im Warmwasser unschädlich zu machen. Sollte das einmal nicht der Fall sein, können Versorger oder Immobilienbesitzer zusätzliche Maßnahmen ergreifen. Auf Komfort müssen die Kunden bei der Niedertemperatur-Fernwärme nicht verzichten: Das Temperaturniveau reicht aus, um die Räume wie gewünscht heizen zu können. Ohnehin werden künftig immer mehr Immobilien in Folge energetischer Sanierungen mit geringeren Vorlauftemperaturen auskommen – das spielt der Niedertemperatur-Fernwärme in die Karten.
Darüber hinaus führen die Experten im Handbuch zahlreiche Maßnahmen auf, mit denen sich der Umbau bestehender Fernwärme-Netze bewerkstelligen lässt. Dazu zählen etwa die sorgfältige Analyse des Temperaturbedarfs der Kunden im Vorfeld oder das frühe Einbinden der lokalen Politik und der Öffentlichkeit. Auch sollten die Möglichkeiten der Digitalisierung genutzt werden, etwa bei Steuerung und Regelung der Systeme. Anhand eines detaillierten Fallbeispiels – der Campus Lichtwiese der TU Darmstadt – machen die Forscher zudem deutlich, wo mögliche Fallstricke bei der Niedertemperatur-Fernwärme liegen.
Fallbeispiele zeigen große Bandbreite der Systeme
Das Fraunhofer IEE hat zum Handbuch vor allem eine detaillierte Untersuchung bereits bestehender Niedertemperatur-Systeme beigetragen. Knapp 140 Beispiele aus vielen Ländern Europas haben die Fraunhofer-Forscher unter die Lupe genommen, davon 40 vertieft. Insgesamt 15 Projekte haben sie ins Handbuch aufgenommen.
Diese Fallbeispiele spiegeln die große Bandbreite bei der Gestaltung dieser Systeme, abhängig von den jeweiligen Bedingungen vor Ort – etwa was Verfügbarkeit von Wärmequellen oder die Anforderungen der Abnehmer betrifft. Zugleich zeigen sie, dass die regulatorischen Bedingungen der Niedertemperatur-Fernwärme mitunter entgegenstehen. Ebenso lässt sich aus den Beispielen ablesen, dass die Amortisationszeiten meist relativ lang sind. Das gilt allerdings auch für die Fernwärmenetze mit höheren Temperaturen. In einigen der untersuchten Fälle liegen die Kosten der Niedertemperatur-Systeme um bis zu zehn Prozent unter denen konventioneller Lösungen.
Viel Kompetenz und Erfahrung bei Wärmenetzen
Das Fraunhofer IEE beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit Wärmenetzen. So entwickeln die Forscher im Schwerpunkt „Energiesystem Stadt“ sektorübergreifend integrative Quartierskonzepte, die klimafreundliche Energiequellen erschließen – Wärmenetze sind hier ein zentrales Element. Mit dem Versuchs- und Testzentrum District LAB bietet das Fraunhofer IEE zudem eine umfangreiche Infrastruktur für Versorger, Planer und Hersteller, die Komponenten innovativer Wärmenetze erproben wollen.
Auch im Bereich der Energieökonomie befassen sich die Wissenschaftler intensiv mit Wärmenetzen, etwa mit deren Investitionsstrukturen. Im Forschungsschwerpunkt „Thermische Energietechnik“ nehmen Wärmenetze ebenfalls eine wesentliche Rolle ein. Darüber hinaus beteiligt sich das Fraunhofer IEE an internationalen Forschungsprojekten zu diesem Thema. So hat Fraunhofer-Forscher Dietrich Schmidt das IEA-Vorhaben „Annex TS1: ‚Low Temperature District Heating in Future Energy Systems’“ geleitet, das der Kooperation zur Erstellung des Handbuchs vorausging.
Plattform Grüne Fernwärme
Um Kommunen bei der Planung und Umsetzung neuer Wärmenetze zu unterstützen, hat der AGFW ein digitales Informationsangebot eingerichtet: Auf der Plattform Grüne Fernwärme (www.gruene-fernwaerme.de) bündelt der Verband Know-how und Ansprechpartner in verschiedenen Regionen Deutschlands. Netzwerkpaten geben ihr Wissen und ihre Erfahrungen an interessierte Kommunen weiter und treiben so die Wärmewende aktiv voran.
->Quellen:
- iee.fraunhofer.de/handbuch-niedertemperatur-waermenetz
- thinkgeoenergy.com/guidebook-low-temperature-district-heating-implementation
- publica.fraunhofer.de/N-640204