Gehäufte Wetterextreme führen zunehmend zu Gesundheitsschäden
Der in den vergangenen Jahren zu beobachtende Temperaturanstieg und insbesondere die steigende Häufigkeit von Tagen mit extrem hohen Temperaturen oder Hitzetagen führen zu teilweise drastischen Steigerungsraten klimasensibler Erkrankungen. Der BKK-Landesverband NORDWEST hat die Zusammenhänge und die Entwicklung klimasensibler Erkrankungen von mehr als 10 Mio. BKK-Versicherten (entsprach 2019 einem Anteil an der Gesamtbevölkerung von 13,4%) im Zeitraum von 2010 bis 2019 untersucht (2020 ist aufgrund Verwerfungen der infolge der Corona-Pandemie teilweisen deutlich zurückgegangener Arzt-Kontakte und Krankenhauseinweisungen nicht berücksichtigt).
Kernaussagen
In der Diskussion über die Auswirkungen der Klimakrise wird oft an den langfristigen Anstieg des Meeresspiegels oder der schrumpfenden Eismassen in der Arktis gedacht. Hierbei entsteht der Eindruck, dass die Auswirkungen weitab von Deutschland und erst in ferner Zukunft entstehen. Aber:
- Wetterextreme, die in ihrer Häufigkeit und ihrer Stärke durch den Klimawandel begünstigt werden, führen bereits heute und deutschlandweit auch zu Gesundheitsschäden.
- Das bislang wärmste Jahr in Deutschland seit dem Beginn der Wetteraufzeichnungen im Jahr 1881 war das Jahr 2018 mit einer Durchschnittstemperatur von 10,5 Grad Celsius. Von den 13 wärmsten Jahren Deutschlands waren elf in den vergangenen 20 Jahren.
- Die schleichenden Auswirkungen des Anstiegs der Durchschnittstemperaturen und die immer öfter zu beobachtenden und immer länger andauernden Hitzetage blieben bisher oft außerhalb der Wahrnehmung.
- Die Analysen des BKK-LV NORDWEST zeigen, dass klimasensible Erkrankungen in den vergangenen 10 Jahren hier und jetzt in Deutschland teilweise drastisch angestiegen sind:
– Hitzetage führen zu einer messbaren Zunahme an Krankenhauseinweisungen bei den vulnerablen Gruppen (Säuglingen und Kleinkindern sowie Menschen ab einem Alter von 75 Jahren).
– Hitze führt bei Arbeitnehmern zu Erkrankungen und damit zu Arbeitsunfähigkeit. Besonders betroffene Berufsgruppen sind Menschen, die im Freien arbeiten, Verkäufer sowie Krankenpfleger.
– Ebenfalls ist Zunahme und Ausbreitung von Infektionserkrankungen zu beobachten. Die von Zecken übertragene Lyme-Borreliose breitet sich infolge besserer Lebensbedingungen für Zecken mit steigenden Durchschnittstemperaturen und wärmeren Wintern aus.
– Ebenfalls ist deutliche Zunahme von Allergien, wie Heuschnupfen, zu beobachten.
– Der Hautkrebs entwickelt sich zur Volkskrankheit. Da die Ursachen meist viele Jahre in der Vergangenheit liegen, ist Aufklärung, Vorsorge und Früherkennung angesichts in Zukunft zu erwartender Zunahme der Sonnenstunden weiterhin notwendig. - Neben dringenden Erreichung der Klimaziele durch die konsequente Reduzierung der CO2-Emissionen sind zum Gesundheitsschutz der Bevölkerung Maßnahmen zur Klimaanpassung das Gebot der Stunde. Hierbei spielen verschiedene Aspekte eine Rolle:
– Bei der Stadtentwicklung istimmer zu beachten, dass Städte oft Hitzefallen sind. Beispielsweise ausreichend Grünanlagen, Windschneisen und Gründächer können dem entgegenwirken.
– Flexible Arbeits-und Arbeitszeitmodelle müssen entwickelt werden, um Hitzestress zu reduzieren.
– Auch im Gesundheitswesen selbst ist derzeit nichts wetterfest – die Klimaanpassung muss besondere Bedeutung erhalten. - Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen sind bislang baulich hierauf meist nicht vorbereitet. In der Planung und der Sanierung der Einrichtungen muss die Klimaanpassung ein zwingender Eckpunkt werden.
- Älteren Menschen fehlt es oft am gesunden Durstgefühl. Mangelnde Flüssigkeitszunahme verstärkt die Hitzeerkrankungen unmittelbar. Die Kontrolle der Getränkeaufnahme in Pflegeheimen muss ein standardisierter Prozess werden. Bei alleinstehenden Personen können digitale Hilfsmittel mit Erinnerungsfunktion helfen.
- Spezielle Informationen und Prävention sind zur Vermeidung von durch Zecken oder Mücken übertragene Infektionserkrankungen und Hautschäden durch Sonnenlicht wichtig.
- Apps zur Warnung vor regionalenWetterextremen und Pollenflug können betroffene Menschen ebenfalls helfen.
Zusammengefasste Ergebnisse
Hitzeschäden
- Die Anzahl der jährlich diagnostizierten Hitzeschäden (Hitzeerschöpfung, Hitzekollaps, Hitzekrampf und Hitzschlag) steigt deutlich an.
- Die Entwicklung zeigt einen Zusammenhang mit der Anzahl der Hitzetage (Tage mit Temperatur von mind. 30 Grad) im Jahr).
- Spitzenwerte im Rekordsommer 2018.
- Insbesondere Altersgruppen 15 bis 29 betroffen.
- April bis September 2019: 102 AU-Tage je 100.000 BKK-Versicherte, fast Verdreifachung zu 2011
- Besonders betroffene Berufsgruppen: Spargelstecher, Verkläufer*innen und Krankenpflegekräfte
Volumenmangel
- Ab Temperaturen über 30 Grad Celsius verliert der Körper überdurchschnittlich viel Flüssigkeit. Wird dieser Verlust nicht ausgeglichenen, steigt das Risiko für Thrombosen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Nierenversagen. Hitze stresst den Körper, weil dieser mehr leisten muss, um die Körperkerntemperatur von etwa 37 Grad Celsius trotz Hitze konstant zu halten.
- Die Krankenhauseinweisungen aufgrund Volumenmangels (Verminderung der im Kreislauf zirkulierenden Blutmenge durch Flüssigkeitsmangel) steigt im Beobachtungszeitraum 2010 bis 2019 jeweils in den Monaten April bis September ebenfalls kontinuierlich an (um 31,5% auf 782 Fälle je 100.000 BKK-Versicherte im Bund).
- Hochgerechnet auf die Gesamtbevölkerung ergeben sich 633.000 jährliche Krankenhauseinweisungen.
- Besonders betroffene Altersgruppen sind Säuglinge und Kleinkinder sowie Menschen ab 75 Jahren
Heuschnupfen
- In 2019 waren 6,2% aller BKK-Versicherten wegen Heuschnupfen in ärztlicher Behandlung.
- Anstieg der im Beobachtungszeitraum erkrankten Menschen um 29%.
- Besonders hoher Anstieg in NRW (36%)
- Besonders hohe Anzahl Patienten in Hamburg
- In allen Bundesländern Frauen rund 10% stärker betroffen als Männer
- Die Ursachen für den Anstieg sind nicht eindeutig geklärt. Wahrscheinliche Gründe sind
– Die Pollensaison verlängert sich, da die allergieauslösenden Pflanzen, zu denen Birkengewächse wie Haselnuss, Erle und die Birke sowie Gräser und Kräuter zählen, infolge der steigenden Temperaturen länger blühen.
– Die Pollenmenge erhöht sich, da die ansteigende Konzentration von CO2 das Pflanzenwachstum und die Pollenproduktion begünstigen.
– Die Verbreitungsgebiete von Pollen werden größer, da wärmere Luftmassen sie über größere Distanzen tragen.
– In Ballungsgebieten mit einer hohen Belastung an Luftschadstoffen verstärken diese Substanzen offenbar die allergene Wirkung der Pollen. So binden Feinstaubpartikel, die mit Pollen interagieren, Substanzen an sich, die Allergien auslösen können. Es entstehen allergenhaltige Aerosole. Diese gesellen sich in der Atmosphäre zu den Pollen und bewirken dann zusätzlich zu den ohnehin vorkommenden Pollen allergische Reaktionen.
– Es gibt neue Quellen für Pollen. Im Zuge des Klimawandels fühlen sich in Deutschland zunehmend allergene Pflanzen wohl, die ursprünglich in wärmeren Regionen der Erde beheimatet sind und mit dem globalen Handels-und Reiseverkehr auch nach Europa kamen. Dazu zählt die o. g. Ambrosia artemisiifolia, das beifußblättrige Traubenkraut, dessen Samen vermutlich im Vogelfutter nach Europa gelangten. Die hochallergenen Pollen lösen ab August/September den sogenannten Spätsommerheuschnupfen aus.
Lyme-Borreliose
- Der Klimawandel begünstigt die Aus-und Verbreitung von Infektionskrankheiten. Mit steigenden sommerlichen Temperaturen, milderen Wintern und verstärkten Niederschlägen ändern sich die klimatischen Bedingungen und damit die (Über-)Lebensbedingungen für Krankheitserreger, ihre Überträger (Vektoren) und ihre Wirts-oder Reservoirtiere.
– Die von Zecken übertragene Lyme-Borreliose ist in allen Bundesländern auf dem Vormarsch. - Absolut höchste Werte in Sachsen (1.171 Patienten je 100.000 Versicherte in Monaten April bis September 2019), zweithöchster Wert in Thüringen 896 (Patienten /100.000 Versicherte).
- Geringe Werte in Stadtstaaten Berlin (302 Patienten/100.000 Versicherte) und Hamburg (227 Patienten/100.000 Versicherte).
- Hohe Anstiege 2019 zu 2010 in Thüringen (+53%) und NRW (+50%). ?Weiter steigende Temperaturen können den Zecken neue Lebensräume eröffnen und milde Winter ihre Vermehrung begünstigen. Sind die Winter mild, überlebt eine größere Anzahl von Kleinsäugern wie Mäuse oder Vögel, die Wirts-oder Reservoirtiere der Erreger. Die Folgen: mehr Überträger (Zecken), mehr Erreger (Viren, Bakterien), ein größeres Verbreitungsgebiet und ein längerer Übertragungszeitraum für Lyme-Borreliose.
Bösartige Neubildungen Haut
- Vermehrte Sonnen-und UV-Einstrahlung, die mit dem Klimawandel einhergehen, erhöhen das Risiko für Erkrankungen der Haut und der Augen.
- UV-Strahlung ist krebserregend. Sie ist die Hauptursache für Hautkrebs. Dieser Begriff beschreibt unterschiedliche Krebserkrankungen: Neben dem weißen Hautkrebs (Basalzellkarzinom und Plattenepithelkarzinom) auch den schwarzen Hautkrebs (malignes Melanom). Sonnenbrände erhöhen das Risiko, an einem schwarzen oder weißen Hautkrebs zu erkranken. Schwere kindliche Sonnenbrände steigern es sogar um das Zwei-bis Dreifache.
- Kontinuierlicher Anstieg der in ambulanter Behandlung befindlichen Patienten im Beobachtungszeitraum um 78%!
- In 2019 mehr als 6% der BKK-Versicherten erkrankt
- Ebenfalls deutlicher Anstieg der Krankenhauseinweisungen
- Da Erkrankungen meist erst nach vielen Jahre mit intensiven UV-Belastungen ausbrechen, sind derzeit Rückschlüsse auf Zukunft schwer möglich
- Sensibilisierung im Vergleich zu Urlaubsverhalten in70er Jahren versus zunehmende Sonnenintensität in Deutschland
->Quelle: bkk-lv-nordwest.de/id=1839