Trotz Direct Air Capture drastische CO2-Reduktion unausweichlich – mit freundlicher Genehmigung von Felix Schenuit und Oliver Geden (IPG)
„Deutschland zögert bei der CO2-Entnahme, weil sie den Anreiz für Emissionsreduktionen senkt. Aber ohne sie sind die Klimaziele nicht erreichbar, schreiben ipg-journal (Internationale Politik und Gesellschaft) der Friedrich-Ebert-Stiftung. „Netto Null“ sei das zentrale klimapolitische Schlagwort der letzten Jahre. Die Europäische Union (EU) strebe das Ziel bis 2050 an, Deutschland und Schweden bis 2045 und Finnland sogar bis 2035. Konkret bedeute „Netto Null“, dass alle nicht vermeidbaren Emissionen – sogenannte Residualemissionen, z.B. aus der Landwirtschaft und einigen industriellen Prozessen – durch CO2-Entnahmen ausgeglichen werden und in der Summe keinerlei Emissionen mehr in die Atmosphäre gelangen.
am imIn den Fokus der Klimapolitik rückte „Netto Null“ nach der Verabschiedung des Pariser Abkommens. Hier einigten sich die unterzeichnenden Staaten darauf, in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ein „Gleichgewicht zwischen den anthropogenen Emissionen von Treibhausgasen aus Quellen und dem Abbau solcher Gase durch Senken“ zu erreichen. Seitdem ist klar: Klimavorreiter ist, wer sich neben der Emissionsreduktion auch mit der CO2-Entnahme beschäftigt.
Daraus ergeben sich Folgen für die zukünftige Klimapolitik der EU und Deutschlands. Die Entscheidungsträger stehen jetzt vor der Herausforderung, die bisherigen Zielvorgaben und Instrumente um Maßnahmen für die Entnahme von CO2 zu erweitern. Eine der politisch relevantesten Fragen ist dabei, wie sich Reduktionen und Entnahmen zueinander verhalten. Wie können letztere angereizt und reguliert werden, ohne dass sie klimapolitische Ambitionen für konventionelle Emissionsreduktion untergraben?
„Klimavorreiter ist, wer sich neben der Emissionsreduktion auch mit der CO2-Entnahme beschäftigt.“
Für die Entnahme von CO2 steht ein immer größer werdendes Portfolio von Methoden zur Verfügung. Sie reichen von klassischer Aufforstung, bei der durch Photosynthese CO2 in Wäldern gebunden wird, bis zu Methoden wie der Abscheidung von CO2 aus der Umgebungsluft mit Hilfe von chemischen Prozessen (der sogenannten Direct Air Capture) in Kombination mit der dauerhaften CO2-Speicherung in geologischen Formationen (CCS). Eine weitere viel diskutierte Variante ist die Kombination der Nutzung von Bioenergie und der unterirdischen Speicherung des dabei ausgestoßenen CO2 (BECCS).
Ökosystembasierte Methoden wie Aufforstung werden für den dafür notwendigen hohen Landverbrauch und angesichts der schwierigen Sicherstellung der Permanenz der CO2-Speicherung kritisiert. Waldbrände oder Schädlingsbefall führen beispielsweise dazu, dass das gespeicherte CO2 zurück in die Atmosphäre gelangt. Bei den geochemischen Methoden verweisen Wissenschaftler vor allem auf die Kosten, den hohen Energieverbrauch und das frühe Entwicklungsstadium der Technologien. Mit Blick auf den Einsatz von CCS wird vor allem auf Risiken ungeplanter Austritte und der Eintragung in das Grundwasser hingewiesen. Der Weltklimarat IPCC stuft die Permanenz der Speicherung hier aber als höher ein als bei Aufforstung oder anderen landbasierten Methoden. Dies bedarf weiterer wissenschaftlicher Forschung und der Begleitung laufender Projekte.
Bislang fanden viele der Entwicklungen in unbeachteten Nischen statt. Seit kurzem wachsen aber u.a. Unternehmen für Direct Air Capture –wie Climeworks mit Hauptsitz in der Schweiz – schnell und vervielfachen ihre Entnahmekapazitäten durch Kooperationen mit großen Unternehmen wie Microsoft, Stripe und Audi. Die Umsetzung und regulatorische Verankerung von BECCS machen vor allem in der Klimapolitik Schwedens und Großbritanniens Fortschritte. In Norwegen positionieren sich darüber hinaus einzelne Großprojekte mit dem Ziel, CO2 aus der EU zu importieren und mit Hilfe von CCS dauerhaft zu speichern. Parallel dazu entstehen zahlreiche freiwillige Märkte für Entnahmezertifikate, auf denen vor allem Zertifikate aus Aufforstung gehandelt werden.
Auch in Deutschland kommt Bewegung in die Entwicklung von Entnahme-Technologien. So hat beispielsweise Atmosfair, eine gemeinnützige Klimaschutzorganisation mit Fokus auf die Kompensation von unvermeidbaren Emissionen, eine Anlage vorgestellt, mit der sich klimaneutrales Kerosin herstellen lässt. Dazu wird neben grünem Wasserstoff, bei dem der Strom für die Elektrolyse aus erneuerbaren Energien wie Wind oder Sonne kommt, unter anderem auch CO2 aus der Umgebungsluft genutzt. Die Investitionen großer Unternehmen wie Lufthansa in das so produzierte Kerosin zeigen eindrücklich, dass Technologien wie Direct Air Capture (siehe u.a. solarify.eu/schweizer-unternehmen-will-jaehrlich-4-000-tonnen-co2-versteinern) immer mehr Aufmerksamkeit erfahren.
„Auch in Deutschland kommt Bewegung in die Entwicklung von Entnahme-Technologien.“
Insgesamt kommen Maßnahmen und technologische Komponenten zur CO2-Entnahme also aus ihrem Nischendasein. Welche der Methoden sich wo durchsetzen wird und wie ihre Regulierung konkret ausgestaltet wird, werden erst die nächsten Jahre zeigen. Schon jetzt nimmt aber der Druck auf Entscheidungsträger auf unterschiedlichen politischen Ebenen zu, CO2-Entnahmen in ihrer Klimapolitik zu adressieren.
Im Rahmen des EU Green Deals hat sich vor allem die Europäische Kommission des Themas angenommen und treibt es auf mehreren Ebenen voran. In einem jüngst vorgelegten Entwurf zur Überarbeitung der Verordnung über Landnutzung und Forstwirtschaft (LULUCF) schlägt die Kommission vor, dass jedem Mitgliedsstaat konkrete Ziele für die CO2-Entnahme in diesem Sektor auferlegt werden, um so zur Erreichung der Klimaziele für 2030 und 2050 beizutragen.
Die technischen Methoden wie Direct Air Capture werden bislang vor allem durch einen Innovationsfonds unterstützt, der sich aus dem europäischen Emissionshandel finanziert. Gleichzeitig unterstützt die Kommission Projekte in Norwegen und den Niederlanden, bei denen CCS in Kombination mit CO2-Entnahme umgesetzt werden könnte. Die Einbettung in bestehende klimapolitische Instrumente ist für diese Methoden aber noch nicht weit vorangeschritten. Ein für Ende 2021 angekündigtes Strategiedokument der Kommission sowie ein für 2022 geplanter Rechtsakt über ein Zertifizierungssystem werden jedoch die nächsten Schritte der bevorstehenden Regulierung von CO2-Entnahme vorbereiten.
In den EU Mitgliedsstaaten werden unkonventionelle Minderungsmaßnahmen zur Entfernung von CO2 aus der Atmosphäre bislang sehr unterschiedlich gehandhabt. In einigen wird die CO2-Entnahme nur zögerlich in die Klimapolitik aufgenommen. In anderen Ländern verfolgen die Regierungen eine proaktive Politik und bilden neue Allianzen, so zum Beispiel Schweden, Dänemark und die Niederlande zusammen mit Norwegen.
Deutsche Entscheidungsträger haben sich dem Thema nur langsam angenähert. 2021 verabschiedete die Bundesregierung dann mit der Novelle des Klimaschutzgesetzes ein verbindliches Ziel für die CO2-Entnahme bei der Landnutzung, der Landnutzungsänderung und in der Forstwirtschaft bis zum Jahr 2040. Die anfängliche Zurückhaltung hing vor allem mit der Sorge zusammen, verstärkte Maßnahmen zur Entnahme von CO2 könnten den Druck auf Anstrengungen zur Reduktion von Emissionen verringern. Außerdem stellt die Nähe der Entnahmemethoden zur in Deutschland politisch umstrittenen unterirdischen Speicherung (CCS) ein Problem dar. Dementsprechend finden die technischen Methoden im Klimaschutzgesetz bislang auch keine explizite Erwähnung. Allerdings zeigen die Modellierungen deutscher Reduktionspfade zur Treibhausgasneutralität bis 2045, dass man ohne den Einsatz technischer CO2-Entnahme nicht auskommen wird.
Die anfängliche Zurückhaltung hing vor allem mit der Sorge zusammen, verstärkte Maßnahmen zur Entnahme von CO2 könnten den Druck auf Anstrengungen zur Reduktion von Emissionen verringern.
Ein vorläufiger Ausweg aus der vorbelasteten CCS-Debatte könnten Kooperationen mit Staaten sein, die sich als Importeur und Anbieter von CO2-Speicherkapazitäten positionieren – bislang fehlen dafür aber konkrete politische Initiativen. Eine zukünftige Bundesregierung wird sich in den kommenden Jahren entscheiden müssen, ob und wie sich deutsche Klimapolitik zu technischer CO2-Entnahme verhält.
Die grundlegende politische Herausforderung besteht darin, dass CO2-Entnahmen heute genutzt werden könnten, um klimapolitische Ambitionen abzuschwächen und Emissionsreduktionen in die Zukunft zu verlagern. Viele Nichtregierungsorganisationen und Entscheidungsträger zeigen sich deshalb bislang eher skeptisch und betonten die Gefahr eines Greenwashing von Emissionsbilanzen. Und tatsächlich gibt es Akteure wie große Öl- und Gasproduzenten, die aus dem Einsatz von CO2-Entnahmen die Hoffnung ableiten, auch in Zukunft noch fossile Emissionen ausstoßen zu können.
Allerdings zeigen wissenschaftliche Modellierungen für Deutschland, die EU und auch global sehr deutlich, dass selbst bei einem großskaligen Einsatz von CO2-Entnahmen in Höhe von 5-10 Prozent der Emissionen von 1990 eine drastische Reduktion unausweichlich ist. Demnach muss das Entnahmepotenzial nicht anstelle der Dekarbonisierung der Gesellschaft, sondern zusätzlich aufgebaut werden. Werden Reduktionen und Entnahme politisch gegeneinander ausgespielt, ist das Erreichen ambitionierter Klimaziele kaum möglich. Insbesondere auch deshalb, weil sich politische Entscheidungsträger in Deutschland und auf EU-Ebene darauf verpflichtet haben, nach Erreichen von „Netto Null“ noch einen Schritt weiter zu gehen und eine „netto negative“-Bilanz von Treibhausgasemissionen anzustreben.
Aufgabe ambitionierter Klimapolitik ist es deshalb, die an CO2-Entnahmen geknüpften fossilen Hoffnungen als fehlgeleitet zu markieren und gleichzeitig das Entnahmepotenzial durch proaktive Entnahme-Politik zu steigern. Dafür sind die umfangreiche Unterstützung von Innovationen sowie klare Zielsetzungen und Anreize nötig, die hohe Standards in Fragen der Permanenz etablieren und regeln, dass CO2-Entnahmen zusätzlich zu Emissionsreduzierungen erfolgen. Diese politischen Initiativen sind umso wichtiger, als sich in vielen Ländern immer mehr Aufmerksamkeit auf den Einsatz von CO2-Entnahmen richtet. Auch hier wird es Vorreiter für ambitionierte und glaubwürdige Klimapolitik brauchen; die kommenden Jahre werden zeigen, ob die EU und Deutschland bereit sind, in diesem neuen Aspekt der Klimapolitik Maßstäbe zu setzen.
Solarify dankt der IPG-Newsletter-Redaktion für die Genehmigung zur Übernahme dieses Artikels.
->Quelle: ipg-journal.de/patentrezept-gesucht