Kopernikus-Projekt Ariadne: „Durchstarten trotz Unsicherheiten“

Eckpunkte einer anpassungsfähigen Wasserstoffstrategie

Für Deutschlands Kurs auf Klimaneutralität 2045 sind grüner Wasserstoff und E-Fuels zweifellos notwendig. Anders als beim erneuerbaren Strom aus Wind und Sonne nutzen wir diese Energieträger allerdings bislang praktisch noch nicht – so eine Medienmitteilung des Kopernikus-Projekt Ariadne am 16.11.2021. In der Debatte gibt es deshalb noch sehr unterschiedliche Einschätzungen, wann welche Wasserstoffmengen zu welchen Preisen verfügbar sein werden. So titelt der Berliner Tagesspiegel tags darauf: „Der überschätzte Hoffnungsträger“. Auch die aktuell meistbeachteten fünf Szenario-Analysen zeigen zumindest langfristig große Bandbreiten für die Nutzung von Wasserstoff und E-Fuels. Doch was wissen wir sicher, wo verbleiben Unsicherheiten und wie kann Politik nun schnell zu robusten Entscheidungen kommen? Mit einem neuen Papier des vom BMBF geförderten Kopernikus-Projekts Ariadne legen Fachleute aus sechs Instituten*) jetzt Eckpunkte für eine anpassungsfähige Wasserstoffstrategie vor.

Wasserstoff-Tank an Multi-Energie-Tankstelle Berlin – Foto © Gerhard Hofmann für Solarify

Direkte Elektrifizierung oder Wasserstoff, Elektronen oder Moleküle: „Für den Kurs auf Klimaneutralität 2045 geht es längst nicht mehr um ein entweder oder, sondern um ein sowohl als auch“, erklärt Falko Ueckerdt vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, einer der Autoren des Papiers. Doch hinter grünem Wasserstoff und E-Fuels stehen noch sehr junge Technologien, und damit viele offenen Fragen. „Für die Politik ergibt sich daraus die besondere Herausforderung, trotz technischer Unwägbarkeiten zielführend zu navigieren“, so Ueckerdt: „Wir haben deshalb konkurrierende Leitbilder in der Wasserstoffdebatte untersucht und plausible Wasserstoffpfade entlang der aktuell vorliegenden fünf großen Szenario-Analysen**) miteinander verglichen. Im Ergebnis legen wir Eckpunkte vor, die Orientierung geben sollen für eine adaptive Wasserstoffstrategie und notwendige Lernprozesse“.

„SPD, Grüne und FDP beispielsweise diskutieren in ihren Koalitionsverhandlungen momentan, ob synthetisch hergestellte Brennstoffe („E-Fuels“) aus klimaneutralem Wasserstoff und CO2 ab 2030 in Pkw und Gasheizungen zum Einsatz kommen sollen. Die Antwort darauf entscheidet darüber, ob sich das von den Grünen geforderte Verbot neuer Verbrennungsmotoren und Gasheizungen womöglich verschieben, wenn nicht sogar abblasen lässt.“ (Tagesspiegel, 17.11.2021)

Große Bandbreite steht nicht für Spielräume, sondern Unsicherheiten und Risiken

Das Kurzdossier der Expertinnen und Experten von sechs Instituten des Ariadne-Konsortiums zeigt: Die Rolle von Wasserstoff und E-Fuels ist in den nächsten Jahren vor allem durch ihre geringe Verfügbarkeit begrenzt, so dass Wasserstoff für den Zeithorizont bis 2030 lediglich eine kleine Rolle spielt. Auf Kurs zur Klimaneutralität 2045 sollten demnach in einer „Dekade der Elektrifizierung“ die Kapazitäten Erneuerbarer Energien verdreifacht werden, batterieelektrische Fahrzeuge die Pkw-Neuzulassungen dominieren und etwa 5 Millionen Wärmepumpen installiert werden. Gleichzeitig muss jedoch der Markthochlauf von Wasserstoff bereits heute mit großem politischem Nachdruck verfolgt werden.

Nach 2030 ist die Bandbreite der Szenarien im Hinblick auf die Wasserstoff- und E-Fuel-Nutzung zwar groß. Dies sollte jedoch nicht einfach als technologischer oder politischer Spielraum interpretiert werden, sondern vor allem als Raum der Unwägbarkeiten. Technologische Unsicherheiten erfordern ein schrittweises Vorgehen und eine laufende Anpassung der Wasserstoffstrategie entlang der Lernprozesse, folgern die Autorinnen und Autoren des Ariadne-Papiers. Solange Unklarheit herrscht über realisierbare Wasserstoffmengen- und -preise sollte Wasserstoff vor allem dort eingesetzt werden, wo es keine Alternativen durch die direkte Elektrifizierung gibt – etwa in der Industrie bei der Ammoniak- oder Stahlproduktion, bei den E-Fuels etwa im Fernflug- oder Schiffsverkehr. Denkbar ist auch Wasserstoff aus fossilen Quellen als zeitlich begrenzte Brückentechnologie  – allerdings begleitet durch Zertifizierung, Regulierung und entsprechender Bepreisung von Emissionen. Nur so kann sichergestellt werden, dass Treibhausgasemissionen tatsächlich reduziert und nicht nur verlagert werden.

„Bis auf weiteres wird Wasserstoff praktisch kaum genutzt werden. Für die Energieversorgung hat das häufigste chemische Element im Universum, das hoch brennbar ist und mittels Elektrolyseuren aus Wasser hergestellt werden kann, noch keinerlei Bedeutung. Aus Effizienz- und Kostengründen liegt der politische Fokus vorerst auf Ökostrom, Elektroautos und elektrisch betriebenen Wärmepumpen. Für die Zeit bis 2030 sind sich Politik und Wissenschaft weitestgehend einig, dass Wasserstoff und seine Folgeprodukte zwischen Null und maximal 3,5 Prozent des Energie- und Grundstoffbedarfs in der EU decken werden. Nur ein Prozent hieße, dass der Wasserstoff-Markthochlauf in dieser Dekade doppelt so schnell gelingen müsste wie bei Windkraft und ähnlich schnell wie bei Photovoltaik. Alle Langfrist-Prognosen sagen: Über eine bestimmte schwelle kommt Wasserstoff nicht hinaus.“ (Tagesspiegel, 17.11.2021)

Eine erfolgreiche Wasserstoffstrategie ist eingebettet in eine Klimaschutzstrategie

„In den nächsten Jahren wird sich zunehmend herauskristallisieren, welche Wasserstoffkosten und -mengen realisierbar sind und inwieweit der Wasserstoffeinsatz nach einem ambitionierten und fokussierten Start schrittweise verbreitert werden kann“, sagt Benjamin Pfluger von der Fraunhofer-Einrichtung für Energieinfrastrukturen und Geothermie IEG, einer der Autoren der Studie. Der Wasserstoffeinsatz bleibt ein Thema, da sein Einsatz bestimmte Herausforderungen bei der direkten Elektrifizierung umgeht. Mit der für die Erreichung der Klimaschutzziele unbedingt erforderlichen Beschleunigung des Ausbaus Erneuerbarer Energien und der Elektrifizierung bis 2030 werden wir mehr über deren langfristige Grenzen lernen: „Mit diesen Erkenntnissen können Marktakteure und Politik besser über Einsatzgebiete von Wasserstoff entscheiden und so die Energiesysteme der Zukunft gestalten. Wird hingegen bereits jetzt auf eine breite Verfügbarkeit von günstigem Wasserstoff und E-Fuels gesetzt und diese Erwartungen erfüllen sich nicht, drohen ein fossiler Lock-in, hohe Kosten und eine Verfehlung der Klimaziele“, so Pfluger.

Eine erfolgreiche Wasserstoffstrategie muss in eine Klimaschutzstrategie eingebettet werden, die den Unsicherheiten sowohl von Wasserstoff und E-Fuels als auch der direkten Elektrifizierung Rechnung trägt, betonen die Ariadne-Fachleute. Diese integrierte Strategie muss sich weder auf ein Wasserstoff-Leitbild noch auf einen langfristigen Pfad des gesamten Energiesystems festlegen. Stattdessen ermöglicht sie der Politik, gemeinsame Lernprozesse mit der Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft anzustoßen und adaptiv auf Basis neuer Erkenntnisse zu reagieren.

**) Fünf Eckpunkte einer anpassungsfähigen Wasserstoffstrategie sollen der neuen Bundesregierung helfen, durch den von Unsicherheiten geprägten Szenarienraum zu navigieren:

  1. Das Angebot (vor allem Import) von grünem Wasserstoff und E-Fuels sollte dringend und mit Nachdruck entwickelt werden. Damit wird die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass zumindest die unbedingt notwendigen Mengen strombasierter Energieträger langfristig verfügbar sind. Voraussetzung für ein schnelles Wachstum sind gezielte regulatorische Maßnahmen und technologiespezifische Förderungen. Steigende CO2-Preise unterstützen die Diffusion, sind jedoch vor 2030 wahrscheinlich nicht ausreichend hoch, um die Wettbewerbsfähigkeit von grünem Wasserstoff zu ermöglichen, sodass es auf eine aktive, technologiespezifische politische Förderung ankommt. Die Politik sollte zudem die Entstehung eines internationalen Wasserstoffmarktes koordinierend unterstützen.
  2. Zunächst sollte Wasserstoff prioritär für „No-Regret-Anwendungen“ verwendet werden, solange nicht absehbar ist, wann und zu welchen Preisen strombasierte Energieträger verfügbar sein werden. Dies sind insbesondere Anwendungen, in denen eine direkte Elektrifizierung grundsätzlich nicht möglich ist: die Nutzung von Wasserstoff in der Industrie (Ammoniak, Stahl) sowie von E-Fuels in der Petrochemie und im Fernflug- und Schiffsverkehr. Diese Nachfragen liegen an relativ wenigen Standorten und Regionen gebündelt vor und könnten somit potenziell Keimzellen eines späteren Wasserstoffnetzes bilden. Die Summe dieser Nachfragen dürfte auf absehbare Zeit die verfügbaren Mengen grünen Wasserstoffs übertreffen, sodass die Fokussierung auf wenige Anwendungen den angebotsseitigen Wasserstoffhochlauf nicht begrenzt. Klimaschutzverträge (CCfDs) für Wasserstoffanwendungen in der Industrie und E-Kerosin-Quoten im Flugverkehr schaffen gesicherte Nachfragen und somit auch Anreize für die Wasserstoffangebotsseite. Da dies bis mindestens 2030 wahrscheinlich nicht marktbasiert von einem CO2-Preis koordiniert werden kann, sollte der Regulierung und Förderung von Wasserstoff eine umfassende Hierarchisierung (oder „Merit-Order”) der verschiedenen Wasserstoff-Anwendungen zugrunde liegen. Diese Ordnung kann zukünftig angepasst werden, wenn Mengen und Preise von Wasserstoff und potenzielle Grenzen der direkten Elektrifizierung besser abschätzbar sind.
  3. Schrittweise sollte über eine Verbreiterung des Wasserstoff-Einsatzes entschieden werden. In den nächsten Jahren wird sich in Projekten zunehmend herauskristallisieren, welche Wasserstoffkosten und -mengen realisierbar sind und inwieweit der Wasserstoffeinsatz nach einem ambitionierten und fokussierten Start schrittweise verbreitert werden kann. Gleichzeitig wird eine Beschleunigung des EE-Ausbaus und der direkten Elektrifizierung deren Innovationspotenziale und Grenzen zeigen. Dann können Marktakteure und die Politik besser über Einsatzgebiete von Wasserstoff entscheiden. Insbesondere im schweren Lkw-Güterverkehr und bei der Prozesswärme kann der Wettbewerb der Energieträger zunehmend von steigenden CO2-Preisen koordiniert werden, sofern auch die Energiesteuern harmonisiert sind. Der Wechsel zu E-Fuels wäre auch nach 2035 für den verbleibenden Bestand an Verbrennungstechnologien kurzfristig möglich, falls die E-Fuel-Produktion zügig genug voranschreitet. Wenn hingegen im Vorhinein auf eine breite Verfügbarkeit von günstigem Wasserstoff und E-Fuels gesetzt wird und sich diese Erwartungen nicht erfüllen, drohen ein fossiler Lock-in, hohe Kosten und eine Verfehlung der Klimaziele. E-Fuels sollten daher als eine erst langfristig verfügbare, und potenziell kostenintensive „Fallback-Option“ betrachtet werden, für Bereiche, in denen sich für die Elektrifizierung und Wasserstoff Grenzen gezeigt haben.
  4. Die direkte Elektrifizierung und der heimische EE-Ausbau müssen deutlich beschleunigt werden. Ein robustes Ergebnis der Szenarien ist, dass eine zügige und weitgehende Elektrifizierung auf Basis eines beschleunigten EE-Ausbaus ebenfalls unverzichtbar zur Erreichung der Klimaziele ist. Bis 2030 bedarf es einer „Dekade der Elektrifizierung“, in der sich die EE-Kapazität verdreifacht, batterieelektrische Fahrzeuge die Pkw-Neuzulassungen dominieren und etwa 5 Mio. neue Wärmepumpen installiert werden. In 2045 liegen die Anteile der direkten Nutzung von Strom im Endenergiemix in allen Ariadne-Szenarien zwischen 50 % und 70 %. Ein konsequentes Voranschreiten und Austesten der Grenzen der direkten Elektrifizierung ist mit vergleichsweise geringen Risiken verbunden, wenn dies kontinuierlich mit dem Fortschritt des EE-Ausbaus abgeglichen wird. Elektrische Anwendungen im Verkehrs- und Gebäudebereich sind so effizient, dass die zusätzlichen Strombedarfe bis 2030 bei erfolgreicher Diffusion etwa 100 TWh (im Vgl. zu 2020) betragen würden (knapp 20 % der heutigen Stromnachfrage).
  5. Eine „blaue Wasserstoffbrücke“ könnte das Angebot klimafreundlichen Wasserstoffs erhöhen und eine frühere Transformation hin zu Wasserstoff ermöglichen. Die nationale Wasserstoffstrategie lässt den Import von blauem Wasserstoff im Übergang zu einer vollständig grünen Wasserstoffversorgung zu. Da die Treibhausgasemissionen (THG) von blauem Wasserstoff je nach Herkunftsland und der verwendeten CCS-Technologie stark variieren kann, bedarf es der Zertifizierung, Regulierung und Bepreisung der Lebenszyklus-THG-Emissionen. Dies muss insbesondere den Methanschlupf bei der Förderung und Bereitstellung von Erdgas im Ausland einschließen. Grüner Wasserstoff sollte unabhängig von blauem Wasserstoff gefördert und entwickelt werden, um die Innovationspotenziale und Kostenreduktionen zu realisieren. Auch hier bedarf es der vollständigen Berücksichtigung der THG-Emissionen.

*) Ariadne, 2021; BDI, 2021b; BMWi, 2021a; dena, 2021; Prognos, Öko-Institut, Wuppertal-Institut et al., 2021

->Quellen und weitere Informationen:

Institute der beteiligten AutorInnen:
Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung PIK, Fraunhofer-Einrichtung für Energieinfrastrukturen und Geothermie IEG, Technische Universität Darmstadt, Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI, Paul Scherrer Institut, Institut für Vernetzte Energiesysteme im Deutschem Luft- und Raumfahrtzentrum DLR.

Weblink zur Projektseite: https://ariadneprojekt.de/

Die Kopernikus-Projekte des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) bilden eine der größten deutschen Forschungsinitiativen zum Thema Energiewende. Ihr Ziel ist eine klimaneutrale Bundesrepublik mit einer sauberen, sicheren und bezahlbaren Stromversorgung bis zur Mitte des Jahrhunderts. Das Kopernikus-Projekt Ariadne ist als Verbund von mehr als 25 Instituten organisiert und wird vom PIK geleitet.  Im Konsortium führt das Kopernikus-Projekt Ariadne durch einen gemeinsamen Lernprozess mit Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, erforscht Optionen zur Energiewende und stellt politischen Entscheidern wichtiges Orientierungswissen bereit.

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