Die Schrumpfung des Umweltministeriums
von Michael Schroeren
Das Bundesumweltministerium (BMU) ist das jüngste unter den Bundesressorts. Es wurde im vergangenen Sommer gerade 35 Jahre alt. Seine Existenz verdankt es keinem weisen Ratschluss der damaligen Bundesregierung. Der konservative Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) hatte es jahrelang vermocht, alle Forderungen der Umweltverbände, Bürgerinitiativen und Grünen nach einem eigenständigen Umweltministerium abzuwehren. Nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl im April 1986 jedoch sah Kohl keine andere Möglichkeit mehr, den massenhaften Protest der Anti-Atombewegung und die enorme Unruhe in der Bevölkerung zu besänftigen – denn nichts anderes war der erklärte „Kampfauftrag“ des ersten Ressortchefs Walter Wallmann (CDU), der nannte es fadenscheinig „Versachlichung der Atomdebatte“.
In dem neuen Ressort wurden umweltpolitisch relevante Arbeitsbereiche aus anderen Häusern zusammengefasst: Aus dem Innenressort kam die für den Gründungsimpuls ausschlaggebende Bundesaufsicht über die deutschen Atomkraftwerke, aus dem Landwirtschaftsministerium der Naturschutz, aus dem Gesundheitsministerium die Zuständigkeit für Wasser, Boden und Luftreinhaltung. Von Klimaschutz war in der Gründungsphase noch nicht viel die Rede, das Thema residierte zunächst in der Grundsatzabteilung und entwickelte sich erst seit den 1990er Jahren neben der Atomaufsicht zu einem zentralen Politikbereich des BMU.
Als Nesthäkchen unter den Ressorts war das BMU immer ein etwas anderes Ministerium, häufig belächelt ob seiner geringen formalen Machtbefugnisse, aber ebenso oft auch unterschätzt. Denn das BMU war alles andere als ein schwaches Ministerium. Seinen Einfluss verdankte es allerdings Eigenschaften und Qualitäten, die für andere Ministerien nach wie vor eher untypisch sind. Ob Wirtschaft, Verkehr oder Landwirtschaft – jedes dieser Ressorts fühlt sich dem Wohlergehen und den vermeintlichen Interessen der im jeweiligen Bereich agierenden Wirtschaftszweige verpflichtet, während sich das BMU mit fast allen großen Industriebranchen des Landes anlegte: Mit den Energiekonzernen über den Atomausstieg, mit der Autoindustrie über Abgaswerte, mit der Agrarlobby über Nitratwerte und Glyphosat, mit der Chemieindustrie über neue Zulassungsverfahren, mit der Bauwirtschaft über Gebäudesanierung, und ja, auch mit Coca-Cola und anderen Giganten der Getränkewirtschaft über Mehrweg und Dosenpfand. Und das alles im Namen der Umwelt – und mit einer beachtlichen Erfolgsbilanz.
Diese Bereitschaft zum begrenzten Konflikt konnte sich das vergleichsweise kleine Ressort nur leisten, weil es sich in vielen strittigen Fragen auf gesellschaftliche Mehrheiten oder zumindest auf die Sympathie eines großen Teils der Öffentlichkeit stützen konnte. Dem Selbstverständnis als streitbarer „Anwalt der Umwelt“ entsprach eine ausgeprägte Bürgernähe, Dialogbereitschaft und Kooperation mit den Umweltverbänden und anderen gesellschaftlich relevanten Gruppen im Umweltbereich. Mochte die Schuld für die Verwässerung oder Verhinderung von Umweltgesetzen, etwa für ein Verbot des Frackings, im Kanzleramt liegen – ihre Transparente rollten die Demonstranten stets zuerst vor dem BMU aus, weil sie wussten, dass sie dort offene Ohren und meistens auch offene Türen vorfanden.
Man muss an diese erstaunliche Geschichte erinnern, um in der ganzen Tragweite zu erfassen, welch einschneidende Folgen die soeben geschlossene Koalitionsvereinbarung der Ampelparteien für das BMU hat. Zu besichtigen ist nicht weniger als die organisatorische Dekonstruktion und politische Enteierung eines Ministeriums, dessen Gründung als der einzige institutionelle Erfolg der Ökologiebewegung in Deutschland bezeichnet werden darf. Dass dies nicht nur unter Duldung, sondern auf aktives Betreiben einer Partei geschieht, die ihre Wurzeln ebenfalls in der Umweltbewegung hat, gäbe Stoff für eine Tragikomödie auf Netflix: „Liebling, ich habe das BMU geschrumpft!“, starring: Robert Habeck und Annalena Baerbock.
Was ist geschehen? Der Koalitionsvertrag der Ampelparteien sieht vor, die Zuständigkeit für die gesamte Klimaschutzpolitik aus dem Umweltministerium herauszulösen und ins Wirtschaftsministerium zu transferieren, das zu einem „Superministerium“ ausgebaut werden soll – wieder mal, muss man sagen, nur diesmal nicht, wie 2002, für Wirtschaft und Arbeit, sondern für Wirtschaft und Klima. Aber wie 2002 steht hinter dieser Operation dasselbe alte Denkmuster: Große gesellschaftliche Transformationsaufgaben sollen im traditionell strukturkonservativen Wirtschaftsministerium bewältigt werden, indem man bislang widerstreitende Interessen und Ziele unter dessen Dach zusammenpackt und hofft, dass etwas Gutes dabei herauskommt. Wie gut das mit der vom seinerzeitigen SPD-Superminister Wolfgang Clement ins Werk gesetzten Arbeitsmarktreform („Hartz IV“) geklappt hat, ist bekannt. Sein Superressort war übrigens schon nach vier Jahren Geschichte. Ob das mit der proklamierten klimapolitischen Reformation unter einem nunmehr grünen Superminister besser gelingt, ist offen. Skepsis ist angebracht. Und die wird nicht nur von schlechten Erfahrungen mit Super-Ressorts genährt (Horst Seehofers „Heimatministerium“ inklusive), sondern auch von Zweifeln, ob die Verlagerung und Zusammenfassung von Zuständigkeiten überhaupt eine Voraussetzung, geschweige denn eine Gewähr, für eine bessere Politik ist. Die bizarre, zwei Jahrzehnte dauernde Odyssee des Politikbereichs Bauen und Wohnen durch die Welt der Bundesressorts – vom Verkehrsministerium (1998) über das Umweltministerium (2013) bis zum Innenministerium (2018) und zurück zum eigenen Haus (2021) – ist ein warnendes Beispiel.
Kalkulierbar ist hingegen der Kollateralschaden, den die Operation im Bundesumweltministerium anrichten, der aber weit darüber hinaus ins Land ausstrahlen wird. Bereits bei den Ressortzuschnitten der vorangegangenen Legislaturperioden hatte das BMU Federn lassen müssen: 2014 ging die Zuständigkeit für die Erneuerbaren Energien, die der erste grüne Ressortchef Jürgen Trittin 2002 aus dem Wirtschaftsministerium geholt hatte, wo sie nicht ernst genommen wurde, dorthin zurück. 2018 verlor das BMU die Abteilungen für Bauen und Wohnen an Horst Seehofers „Heimatministerium“, ohne dafür zum Ausgleich neue Kompetenzen zu erhalten.
Die nun erfolgte Herauslösung des Klimaschutzes aus dem Portfolio des BMU aber übertrifft alles Dagewesene. Sie kommt einer Amputation seines Standbeins gleich, ein Verlust, der unersetzlich ist und auch nicht durch die Zuweisung des Verbraucherschutzes aus dem Justizministerium ausgeglichen wird. Dem Ministerium kommen operative Haushaltsmittel in Milliardenhöhe abhanden. Allein das Programm zur Dekarbonisierung der Industrie ist über seine Laufzeit bis 2025 auf rund 1,3 Mrd. Euro ausgelegt. 500 bis 600 Mio. Euro konnte das BMU bisher jedes Jahr für internationale Klimaschutzprojekte ausgeben, hinzu kommen Mittel im Rahmen der „Nationalen Klimaschutzinitiative“, für die allein in der aktuellen Förderperiode bis Ende 2022 mehr als 100 Mio. Euro veranschlagt sind.
Aber es ist mehr als nur Geld, das dem BMU verloren geht. Vorbei ist auch die ganzheitliche, integrale Bearbeitung des komplexen Themas Klimaschutz und seiner Facetten, die in alle Bereiche der Umweltpolitik hineinragen – Biodiversität, Bodenschutz, Grundwasserschutz, Hochwasserschutz, Immissionsschutz, auch Verbraucherschutz. Die Ablösung des Klimaschutzes von diesen Zusammenhängen, seine Einbettung in das Prokrustesbett eines Ministeriums, das zu einem beträchtlichen Teil immer noch darauf gepolt ist, die Wirtschaft vor konsequentem Klimaschutz zu bewahren, ist ein waghalsiges, vielleicht auch leichtsinniges Experiment.
Ganz sicher aber ist es ein Experiment, für das es keine zwingende Notwendigkeit gab. Aber, so wird eingewendet, waren Klimaschutz und die Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft nicht das zentrale Anliegen der grünen Regierungsbeteiligung? Erfordert dieses Ziel nicht die entsprechende Ausrichtung der gesamten Regierungsarbeit? Bedarf es dazu nicht der Schaffung eines mächtigen Klimaschutz-Ressorts? Ja, ja, und ja! Genau deshalb wäre es denkbar und näherliegend gewesen, das Umweltministerium mit allem, was es an Fachkompetenz und Erfahrung aufzubieten hat, zur zentralen Instanz der Transformation Richtung Klimaneutralität zu machen, indem ihm zusätzliche Kompetenzen, Zuständigkeiten und Befugnisse übertragen werden. Was selbstverständlich eingeschlossen hätte, parallel dazu das Wirtschaftsministerium unter einer grünen Führung endlich auf den Kurs zur Klimaneutralität zu bringen.
Zurück bleibt das BMU als Torso: ein Ressort an der Grenze zur Bewegungs- und Bedeutungslosigkeit, um das sich kaum noch jemand reißen wird und um dessen Fortbestand man sich deshalb ab jetzt ernste Sorgen machen muss. Es spricht nach aller politischen Erfahrung nicht viel dafür, dass die jetzt begonnene Demontage des BMU jemals wieder rückgängig gemacht wird. Zu befürchten ist eher, dass bei künftigen Regierungsbildungen noch hemmungsloser mit ihm umgesprungen wird, sollte das BMU als „Umweltgedöns“ auf die Resterampe gelangen. Der neuen grünen Ressortchefin Steffi Lemke ist zuzutrauen und zu wünschen, dass es ihr gelingt, dies in den nächsten vier Jahren zu verhindern und mit beherzten, mutigen und klugen Initiativen das Beste aus der Situation zu machen. An ihr liegt es jedenfalls nicht, dass ausgerechnet die Ökopartei Bündnis 90/Die Grünen ab jetzt eine doppelte Verantwortung tragen muss: als diejenigen, die bei der Geburt des Bundesumweltministeriums Pate standen, und zugleich als diejenigen, die 35 Jahre danach die Axt an seine Existenz gelegt haben.
Michael Schroeren hat von 1998 bis 2009 und von 2014 bis 2017 die Presseabteilung des Bundesumweltministeriums geleitet und war Pressesprecher der Minister Jürgen Trittin (B90/Die Grünen), Sigmar Gabriel (SPD) und Barbara Hendricks (SPD).