Buch: Wälder sind Lebewesen

Rezension von Walter Tauber

“Wir wissen seit Jahrhunderten, dass man nicht zu viel Holz aus dem Wald holen darf, um ihn nicht zu zerstören,” schreibt Hansjörg Küster, Professor am Institut für Geobotanik der Leibniz-Universität in Hannover. Im Vorwort zu “Das Waldbuch” (oekom-verlag) betont er, dass die Zukunft des Waldes mit der Zukunft der Menschheit eng verbunden ist: “Der richtige Umgang mit Wald ist eine große Herausforderung an uns alle.” Wald ist mehr als nur Nutzen für den Menschen. Wir erholen uns im Wald, und wir schlagen Holz für Baustoffe und für Papier. Trotzdem verbrennen wir ihn rücksichts- und gedankenlos. Ein Drittel des in Deutschland gefällten Holzes wird schlicht verheizt. Wissen ist genug da, dieses und viele andere Bücher und Studien belegen das. Warum hört denn keiner hin?

Esther Gonstalla: Das Waldbuch, Alles, was man wissen muss in 50 Grafiken – ISBN 978-3-96238-211-7, Hardcover, 128 Seiten mit 50 Infografiken – Titelseite © oekom-verlag

Wälder sind sehr unterschiedlich, komplexe Systeme, für das Überleben vieler Arten – auch des Menschen – lebenswichtig. Wälder sind Lebewesen, deren einzelne Bestandteile auf wundersame Weise verbunden sind. Unsere Verantwortung für den Wald geht weit über die Berechnung der CO2-Bilanz hinaus. Es ist pervers, wenn Regierungen das Verbrennen von Holz als “nachhaltig” bezeichnen, damit sie die unerbittliche und profitable Zerstörung fortsetzen können.

Die meisten von uns wissen zu wenig über den Wald. Vielleicht würden wir verstärkt politischen Druck ausüben, wenn unser Handeln von Einsicht geleitet würde. Die meisten von uns gucken nur zu und klatschen im besten Fall, wenn sich mutige Waldschützer in die Bäume hängen. Vielleicht gehen wir auch mal zur Demo. Wissenschaft ist zu kompliziert – und verdrängen doch so leicht.

Deshalb ist dieses Werk besonders wertvoll. Und schön ist es auch noch: Ein ideales Geschenk für Naturfreundinnen und Freunde. Große Graphiken laden uns ein, in die Wunderwelt der Wälder einzutauchen, um durch Wissen unser Verständnis und unsere Liebe zum Wald zu entwickeln.

Die einleitende Graphik “Der Wald und der Mensch” fasst es zusammen: Der Wald schützt Klima, Boden oder Küsten. Und er bietet Lebensraum und Sauerstoff. Uns nützt er als Lebensraum, kann Armut lindern, bietet Erholung und Raum für Spiritualität. Und er ist eine reiche Quelle von Medikamenten. Aber die Graphik deutet schon an, dass wir es mit dem Nutzen nicht übertreiben sollten.

Das Waldbuch – erstes Kapitel ‚Ökosystem Wald‘ © oekom-verlag

Das erste Kapitel Ökosystem Wald bringt uns tief und anschaulich in die Materie.

“Und was ist überhaupt ein Wald?” lautet eine Anfangsfrage, wie alles hier mit einem anschaulichen Bild und knappem Text beantwortet. Eine Weltkarte zeigt uns, was es für Arten von Wäldern gibt und wo sie liegen. Von der Übersicht bringt uns die Autorin gleich zum Einzelnen: Etwa 60.000 Baumarten gibt es auf der Welt. Ein Dutzend stellt sie beispielhaft als Umriss dar, inklusive Wurzelwerk.

Das Waldbuch – Leben eines Baumes © oekom-verlag

Die nächste große Graphik zeigt uns, wie ein Baum überhaupt lebt. Photosynthese, Überwinterung, Bodenrespiration oder Wasserkreislauf: Die Erklärungen umringen die Graphik und machen klar, was doch so komplex ist. Unterhaltsam ist die Doppelseite mit den Rekordhaltern unter den Bäumen: Eine Mexikanische Sumpfzypresse etwa ist so dick wie ein Autobus lang ist. Und der älteste bekannte Baum ist eine zurecht “Methusalah” genannte 4995 Jahre alte Kiefer in Kalifornien (im Inyo National Forest, ihr genauer Standort ist geheim).

Das Waldbuch – Leben eines Baumes © oekom-verlag

Wer hier schon gestaunt hat, wird noch mehr ins Wundern geraten, wenn es unter die Erde geht. Mithilfe von Pilzen und Mikroorganismen kommunizieren Bäume, helfen einander und warnen vor Gefahren wie Feuer oder giftigen Pflanzen. So dicht ist das Netzwerk, dass Forscher es in Anlehnung an unser Internet Wood Wide Web getauft haben.

Sechs weitere Abschnitte ergänzen das Kapitel zum Verständnis des Ökosystems Wald: Wald und Wasser, Wald und Nahrung und die Bedeutung von Totholz. Der Wasserkreislauf ist lebenswichtig für uns, stammen doch 75 Prozent des weltweiten Trinkwassers aus bewaldeten Einzugsgebieten. Bevor der Mensch mit Hacken und Sägen und Niederbrennen loslegte, waren fast 70 Prozent der Wassereinzugsgebiete der Welt bewaldet. Jetzt sind es nicht einmal mehr 30.

Wer frisst wen? Wieder entschlüsselt eine anschauliche Graphik komplexe Zusammenhänge der Biodiversität. Und eine Zahl bekräftigt die Bedeutung des Waldes: Etwa 80 Prozent der Tier- und Pflanzenarten, die an Land leben, sind in Wäldern heimisch. Die zwei nächsten Graphiken erklären die Rolle von Totholz und was für Auswirkungen Waldbrände haben.

Status der Wälder heißt der Abschnitt, der das Kapitel abrundet: Eine Bestandsaufnahme, die zum Denken anregt. Geschätzt sind 420 Millionen Hektar seit 1990 von Menschen gerodet worden. “Geänderte Landnutzung” heißt das technisch – es bedeutet meist systematische Brandrodung zugunsten von Viehwirtschaft (Stichwort Billigfleisch), Soja-Anbau (Stichwort Massentierhaltung, also auch Billigfleisch) oder Ölpalmenplantage (Stichwort „Nutella“ und ähnliche Leckereien). Eine Zahl könnte optimistisch stimmen: Etwa 73 Prozent der Wälder weltweit sind in öffentlicher Hand. Also doch: politisch Druck machen könnte etwas bringen.

Ein Kapitel über Wald und Klima konnte in diesen Zeiten nicht fehlen. Eine Graphik erklärt kurz und bündig, was die Klimakrise bedeutet und was sie alles mit sich bringt. Dann folgen zwei Seiten, auf denen Bilder und Texte deutlich machen, “warum unser Klima auf intakte Wälder angewiesen ist.” Wälder können die Luft je nach Standort und Art wärmen oder kühlen. Und nein, die Monokulturen, die für Papier oder Holzpellets angebaut werden, sind keine Wälder, sie degradieren den Boden und trocknen ihn nur aus.

Wie der Kohlenstoff-Kreislauf funktioniert, wie viel natürlich ist und wie viel vom Menschen gemacht, erfahren wir als nächstes. Wann können welche Wälder wie viel Kohlenstoff aufnehmen? Spannende Fragen deutlich dargestellt. “Deutscher Wald als CO2 Speicher” (s.38) weist auf die Bedeutung von Produkten wie Bauholz oder Parkett hin – so wie die Holzwirtschaft das auch gerne tut. Der Begriff nachhaltige Forstwirtschaft ist hier hervorgehoben, und die Autorin bekräftigt, dass die “Bewahrung der wesentlichen Ökosystemleistungen und der natürlichen Regenerationsfähigkeit des Waldes dabei Priorität vor wirtschaftlichen Interessen haben muss.” Die Holzindustrie ist aber noch weit davon entfernt, diesen Punkt verstanden zu haben (siehe dazu das Buch “Der Holzweg” wikistade.org/buecher-zum-umbruch/204-kampfansage-fuer-den-wald).

Wie zerstörerisch die Regenwaldrodung ist, zeigt die nächste Graphik. Warenimporte in die EU umgerechnet in eine Million Fußballfelder gerodeten Waldes und 1000 Millionen Tonnen freigesetztem CO2 (2000 – 2009). Das so harmlos klingende Wort “Warenimporte” steht aber, das sollte man nie vergessen, für Billigfleisch, Schoko-Produkte oder sogar Seifen. Nicht nur böse brasilianische Großgrundbesitzer fackeln den Amazonas-Urwald ab – wir sind voll dabei! Sogenannte “Freihandelsverträge” verschaffen Konzernen freie Hand für die Zerstörung.

Was geschieht aber, wenn es trockener wird? Neue Pflanzen ersetzen sterbende Wälder, Insekten und Krankheiten nehmen zu, die Artenvielfalt nimmt ab. Auch der Boden trocknet aus, Dürren verstärken sich und verheerende Waldbrände verkohlen ganze Landschaften.

Kann man das stoppen mit Aufforstung? Ja, aber… einfach mal junge Bäume pflanzen bringt es nicht. Jedes Ökosystem erfordert eine spezifische Behandlung. Waldschutz und Wiederaufforstung sind gewiss effiziente Klimaschutzmethoden. Aber sie müssen gut geplant werden. Oft ist Renaturierung, die Wiederherstellung ursprünglicher Wildnis, der Weg. Oder beschädigten Wald mal sich selbst überlassen, statt ihn übereifrig mit Plastik-umhüllten Setzlingen nachzufüllen. Die Graphiken des Waldbuches zeigen beispielhaft, was wo wirksam ist. Renaturierung im Niger, Samenaussaat in Amazonien oder Setzlinge in Kanada, jeder Wald erfordert eine bestimmte Methode.

Der Abschnitt “Waldmanagement in der Klimakrise” geht auf regional verschiedene Veränderungen in Deutschland ein. Die Karte zeigt, wie sich die Waldbrandgefahr in den nächsten Jahren massiv ausweiten wird. Wissenschaftler fragen sich, wie sie die Klimaflexibilität von Wäldern erhöhen können. Totholz und Humusaufbau sind zwei wichtige Faktoren.

“Heute noch beziehen Millionen ländlicher Kleinbauern im globalen Süden die Hälfte ihres Einkommens aus der Nahrungssuche in Wäldern und Wildnis” sagt Sven Wunder, vom European Forest Institute (EFI) in Barcelona. Das Zitat eröffnet das Kapitel Wald und Mensch. Elf anschaulich und logisch aufgebaute Abschnitte umfassen alle Aspekte des Zusammenlebens von Wald und Mensch.

Mit “Ökosystemleistungen” geht es los, grundsätzlich wichtig, auch wenn man diese Leistungen nicht “vermarkten” kann. Dann folgt die Forstwirtschaft, die 49.000 Arbeitsplätze in Deutschland bietet und 3,7 Milliarden Kubikmeter Holzreserven verbucht. Aber ist das alles Wald? Oder Plantage? Was die Holzwirtschaft produziert erfahren wir als nächstes. Digitalisierung hat in Europa den Papierverbrauch stark reduziert, während er in Asien (noch) steigt.

Ein kritisches Thema: Bäume als “grüner” Energielieferant? Anführungs- und Fragezeichen sind hier gut am Platz. Denn zwischen den 2,4 Milliarden Menschen, die Holz zum Kochen oder Heizen – besonders in Afrika – verfeuern und der modernen angeblich nachhaltigen Energiegewinnung aus Holz liegen Welten. Die USA exportieren über 5 Millionen Tonnen Holzpellets pro Jahr, zum Teil dank perverser Subventionen der Europäischen Union (siehe: wikistade.org/besonders-widerlich). Esther Gonstalla zeigt hier klar, was getan werden muss: “Nachhaltige Forstwirtschaft weltweit fördern”. Das heißt auch politisch agieren und die Öffentlichkeit einbeziehen. Das geht uns alle etwas an!

Wenn das ökologische Gleichgewicht gestört ist, funktioniert das Zusammenleben von Tier und Pflanzen nicht. Rehe und Wildschweine vermehren sich ungebremst, weil die Raubtiere fehlen (für welche die Wälder heute meist zu klein sind). Rund 28 Prozent der Jungbäume leiden unter Verbiss. Muss der Mensch nun Mitverantwortung tragen durch die Jagd? Die Statistiken zeigen für Jäger und Abschüsse starkes Wachstum. Die Jagd selbst, die leider meist aus Spaß betrieben wird, wird hier nicht thematisiert.

Heilkräfte und Naturtourismus sind zwei wichtige Bereiche, die direkte Vorteile unversehrter Wälder unter Beweis stellen. Drei Viertel aller Medikamente gegen Krebs enthalten pflanzliche Wirkstoffe. Wollen wir die Urwälder wirklich abfackeln, um dafür noch mehr billige, fade Schnitzel zu kriegen – oder elendes Geflügel, das nicht mehr auf den eigenen Beinen stehen kann? Wollen wir vor allem Fleischgiganten wie Tönnies fördern, wo doch Nationalparks weltweit zur psychischen und physischen Gesundheit der Menschen beitragen – ein Wert, der auf 5,4 Billionen Euro geschätzt wird. Heute stehen 15 Prozent der Landflächen weltweit unter Schutz und 19 Prozent der Waldflächen. Da ist noch Luft nach oben.

Vom Wald geht es im nächsten Abschnitt Grüne Städte und urbane Wälder wieder zu Bäumen. Ob durch Temperaturen, Luft, Regen oder Lärm – Bäume in der Stadt bieten unzählige Vorteile, je mehr davon wir anpflanzen, umso besser. Auch dieser Aspekt bietet zahlreiche Möglichkeiten, sich zu engagieren.

Was der Wald für die Armutsbekämpfung bedeutet, sehen wir als nächstes. Eine Weltkarte zeigt uns, welche Völker wo leben. Die Anzahl Waldbewohner wird auf 1,3 Milliarden geschätzt. Darunter sind etwa 77 Völker im Amazonas-Becken, die noch ganz ohne Kontakt zur modernen Welt leben dürfen. Besonders wichtig für uns ist die Frage, wie diese Völker mit ihrer Umwelt umgehen. Am Beispiel Borneo zeigt Das Waldbuch, wie die Einheimischen mithilfe ihres Jahrtausende alten Wissens 150 Arten pro Hektar bewirtschaften können. Für westliche Forstmanager sind vier Arten pro Hektar schon “eine Herausforderung”.

Das Waldbuch – Infrastruktur treibt Entwaldung an © oekom-verlag

Dass Wälder in Gefahr sind ahnten wir schon, bevor wir zu diesem Kapitel gelangten. Wieder klären uns hier anschauliche Graphiken darüber auf, was es für Arten von und Ursachen für Entwaldung gibt, wie Bevölkerung und Abholzung zusammenhängen und was Infrastruktur für einen Wald bedeutet. Der Urwald wird nicht einfach an den Rändern angeknabbert. In Brasilien eröffnete die berühmte “Transamazonica”-Straße den Weg für landlose Kleinbauern auf der Suche nach einem würdigen Überleben. Das misslang dann meist, und es folgten die Großgrundbesitzer mit ihren Viehherden. Rinder, oder eher unsere Sucht nach Burger und Schnitzel, sind für 80 Prozent der Abholzung des brasilianischen Regenwaldes verantwortlich.

In 200 Jahren hat der Mensch rund 66 Prozent der Primärwälder zerstört. Geschätzt 41 Prozent weniger Arten leben in degradierten Wäldern als in intakten Urwäldern.. Jede Sekunde wird heute ein Stück Wald von der Größe eines Fußballfeldes verwüstet. Das Artensterben ist nicht aufzuhalten

Das Waldbuch – In 10 Punkten zu mehr Waldschutz © oekom-verlag

Oder doch? Das Kapitel Waldschutz stimmt wieder etwas optimistischer. Esther Gonstallas Waldbuch schlüsselt in der Kürze präzise auf, was für Methoden der Zerstörung Einhalt geben könnten. Das geht von verantwortlicher Waldnutzung über nicht zerstörerische Lieferketten, Bekämpfung des illegalen Holzschlages bis hin zum Konsumverhalten (also, aufpassen im Supermarkt!)

Wieder dient eine Weltkarte dazu, die vielen Schutzgebiete darzustellen – 146 davon sind zugleich Unesco-Weltkulturerbe. Es folgen Graphiken zur Regeneration von Wald und zur nachhaltigen Bewirtschaftung. Auch Lieferketten erklärt die Autorin in Wort und Bild in einleuchtender Weise. Einen Abschnitt darüber, was wir, jeder von uns, nun tun kann, kann in einem solchen Buch nicht fehlen. Bäume pflanzen oder online Petitionen? Na klar. Aber da gibt es mehr: “Du kannst klettern? Super! Hilf in deiner Region mit, einen Baum oder ein Waldstück vor dem Abholzen zu bewahren”.

Inspirierende Beispiele und ausführliche Quellenangaben ergänzen dieses Buch, das nicht nur schön sondern auch nützlich ist. Das Buch macht auf wichtige Erkenntnisse aufmerksam, etwa Agroforstwirtschaft (auf der Webseite des Bundesministerium für Umwelt und Landwirtschaft finden sich gerade zwei Treffer. Auch hier ist noch viel Raum nach oben). Esther Gonstalla ist es gelungen, ein Buch voller Wissenschaft und Statistik durch ihre Illustrationen zu einem sinnlichen Erlebnis zu machen. Das macht es in einer Zeit, in der wir von Information überflutet werden, unverzichtbar.

Zum Abschluss das Zitat von Christian Ammer, Professor für Waldbau und Waldökologie an der Universität Göttingen: “In diesem Buch gibt es fast so viel zu entdecken wie in einem richtigen Wald.”

->Quellen: