Der Elefant im Raum

Kontroverse um Sicherheit der Schweizer Atomkraftwerke
Von Fabian Lüscher, Schweizerische Energiestiftung

Obwohl 2024 die geplante Laufzeit des AKW Leibstadt (Kanton Aargau, Schweiz) endet, soll es nicht abgeschaltet werden. In der Schweiz fehlt sowohl ein Plan zur Stilllegung der bestehenden Reaktoren als auch ein wirksames Konzept für den Umgang mit Sicherheitsmängeln im Langzeitbetrieb. Leibstadt wurde für eine Laufzeit von 40 Jahren konstruiert und ging 1984 in Betrieb. Knapp vier Jahrzehnte später steht die Anlage eigentlich vor ihrem bestimmungsgemäßen Ende. Eigentlich – denn statt die Stilllegung zu planen und den Rückbau vorzubereiten, rüstet man am Hochrhein auf.

Dank neuem Kondensator und mit besser steuerbaren Umwälzpumpen kann die Leistung des uralten Siedewasserreaktors noch etwas gesteigert werden. Während diesbezüglich optimiert wird, scheint das Interesse an sicherheitstechnischen Nachrüstungen indes nicht vorhanden zu sein. Das ist bedenklich, denn gemessen an heutigen Standards ist das Sicherheitsniveau des AKW Leibstadt äußerst mangelhaft und für eine verlängerte Laufzeit ungenügend.

Der lange Schatten der AKW-Debatte

Angesichts unangenehmer Strommangelszenarien suchen Politiker:innen aktuell wieder händeringend nach einfachen Lösungen für komplizierte energiepolitische Probleme. Was ist zu tun, um der Stromversorgung der Schweiz trotz europapolitischer Ungewissheiten ein möglichst sicheres Fundament zu verschaffen? Wie auf jede komplexe Frage gibt es auch auf diese eine ganz einfache Antwort, die falsch ist. Deswegen erleben AKW-Neubaufantasien in diversen Schweizer Sitzungszimmern, Redaktionen und Lobbyverbänden gerade ihren zweiten, dritten oder vierten Frühling.

Neue AKW sind indes vorerst kein ernsthaftes Thema, obwohl die wählerstärkste Partei der Schweiz inzwischen offen für eine Aufhebung des gesetzlich verankerten Neubauverbots wirbt. Realistisch ist diese Forderung aktuell nicht. Selbst die Axpo (Axpo Holding AG, Baden, Kanton Aargau, schweizerischer Energiekonzern) ließ unlängst verlauten, dass neue Atomkraftwerke schon rein wirtschaftlich keinen Sinn mehr machten, nicht einmal wenn man Sicherheitsrisiken außer Acht lasse. Der Angriff auf das Neubauverbot steht dennoch regelmässig im Rampenlicht und lenkt damit von drängenderen Fragen ab: Der lange Schatten der Neubauillusion ist der verlängerte Betrieb der bestehenden Reaktoren – und dieser wird nicht so umfassend verhandelt, wie er sollte.

Extreme AKW-Laufzeiten bis zu 80 Jahren

Einige Stimmen versuchen momentan medienwirksam, AKW-Laufzeiten von 50 oder sogar 60 Jahren zu normalisieren, denken gar über einen 80-jährigen Betrieb für die verbliebenen Schweizer Reaktoren nach. Andere fordern dreist, der Staat solle den verlängerten Betrieb der uralten AKW finanziell unterstützen. Der Grund liegt auf der Hand: Ein Stromabkommen mit der EU ist in weite Ferne gerückt und der Ausbau neuer erneuerbarer Energien macht statt großer Sprünge nur kleine Schritte. Längere AKW-Laufzeiten scheinen Abhilfe schaffen zu können – zumindest solange man die zunehmenden Sicherheitsrisiken und Umweltbelastungen komplett ausblendet.

Verfolgt man die Debatte um verlängerte AKW-Laufzeiten, wird schnell klar: Diejenigen, die immer extremere Laufzeiten für AKW fordern, möchten sich über die Sicherheitstechnischen Implikationen den Kopf lieber nicht zerbrechen. Und genau dieser Umstand ist ein ernsthaftes Problem: Nebst den AKW-Betreibern und dem Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorat ENSI stehen grundsätzlich auch die Gesetzgeber:innen in der Verantwortung. Doch während atomaffine Politiker:innen alle Sicherheitsbedenken mit Verweis auf das ENSI von sich weisen, betont die Aufsichtsbehörde ihrerseits, dass sie sich nur im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen für den Atomschutz einsetzen könne. Die heute geltenden Bestimmungen sind aber gar nicht auf auslegungsüberschreitende Laufzeiten ausgerichtet. In diesem Verantwortungsvakuum wird die Kluft zwischen vom ENSI geprüften Sicherheitsanforderungen und zeitgemäßen internationalen Standards, die für heutige Atomanlagen gelten müssten, immer größer.

Kein klares Konzept für Nachrüstungen und Langzeitbetrieb

Um eine Hochrisikoanlage wie ein AKW länger zu betreiben als vorgesehen, braucht es klare Konzepte, strenge Vorgaben und massive sicherheitstechnische Nachbesserungen. Spätestens nach Ablauf der Auslegungszeit müsste eine solche Anlage an den heutigen Sicherheitsstand herangeführt werden und sich daran messen lassen. Trotzdem ist die Sicherheit alternder Reaktoren aber die prominente Abwesende in der aktuellen Schweizer Atomenergie-Diskussion.

Sucht man im Atomenergie-Regelwerk nach einem umfassenden Konzept für den Langzeitbetrieb von Schweizer AKW, wird man nicht fündig. Insbesondere fehlen klare Vorgaben dazu, inwiefern eine veraltete Anlage nachgerüstet werden muss, damit sie im auslegungsüberschreitenden Betrieb kein unverhältnismäßiges Risiko für die nukleare Sicherheit darstellt. Auch nach Ablauf der ursprünglich vorgesehenen Laufzeit wird den Betreibern keine Frist für die endgültige Stilllegung gesetzt – die Betriebsbewilligungen für Schweizer AKW laufen einfach weiter, „solange sie sicher sind“ – die Auslegungslaufzeit verkommt zur Makulatur. Ein Schweizer Atomkraftwerk wird also erst dann außer Betrieb genommen, wenn der Betreiber das möchte oder das ENSI dies aus Sicherheitsgründen verfügen sollte.

Zu viel Spielraum bei der AKW-Sicherheit

Das Problem dabei ist, dass die Vorgaben für AKW-Sicherheit im Schweizer Regelwerk extrem elastisch sind. Sie sind so aufgebaut, dass der Stand von Wissenschaft und Technik als Messlatte gilt, an die bestehende AKW aber bei weitem nicht daran heran reichen müssen. Konkret bedeutet das, dass die Schweiz zwar den sicherheitstechnischen Fortschritt zur Kenntnis nimmt, dieser aber nur im hypothetischen Fall eines Neubaus gelten würde. Bestehenden AKW gegenüber herrscht größtmögliche Toleranz. Sprich: Sicherheitstechnische Nachrüstungen werden nur dort verlangt, wo sie ohne allzu großen Aufwand machbar sind.

Das verschafft den AKW-Betreibern großen Spielraum. Damit besteht ein grundsätzliches Problem in der Schweizer Atompolitik, das sich angesichts verlängerter Laufzeiten noch zusätzlich akzentuiert. Nur weil sich die sicherheitstechnischen Gummiparagraphen während der 40 vorgesehenen Betriebsjahre für die Betreiber gelohnt haben, heißt das nicht, dass man diese Spielregeln für den verlängerten Betrieb weiterhin unreflektiert übernehmen kann. Weil mit dem Ende der auslegungsgemäßen Betriebszeit in der Schweiz keine Neulizenzierung fällig wird, stellt sich zunächst die Frage: Wie überprüft das ENSI die Sicherheit veralteter Schweizer AKW im Hinblick auf immer längere Laufzeiten überhaupt?

Ungenügende Sicherheitsnachweise

AKW-Betreiber müssen alle zehn Jahre eine sogenannte Periodische Sicherheitsüberprüfung (PSÜ) ihrer Kernkraftwerke durchführen. Dafür gibt es bindende Kriterien. Wenn es um den verlängerten Betrieb geht, sieht das Schweizer Kernenergiegesetz eine zusätzliche Anforderung vor. Die Betreiber müssen im sogenannten „Sicherheitsnachweis Langzeitbetrieb“ darlegen, wie und inwiefern sie die Sicherheit ihrer Anlagen auch nach Ablauf der eigentlich geplanten 40 Jahre gewährleisten wollen.

Das älteste Schweizer AKW, Beznau, musste 2008 eine sicherheitstechnische Stellungnahme für den Langzeitbetrieb einreichen. Die entsprechende ENSI-Richtlinie wurde allerdings erst danach überarbeitet. Darauf basierend forderte das ENSI, dass bis 2018 ein aktualisierter Sicherheitsnachweis für den Langzeitbetrieb nachgereicht werden müsse. Dieser wurde 2019 beim ENSI eingereicht und wird seither geprüft. Eine Stellungnahme dazu ist Mitte November publiziert worden. Bemerkenswert ist, dass sich das AKW Beznau Inzwischen seit zwölf Jahren im verlängerten Betrieb befindet – wobei immer wieder ernsthafte Probleme aufgetreten sind – und erst jetzt ein von der Atomaufsicht geprüfter Sicherheitsnachweis dafür publiziert worden ist.

Die beiden Uraltreaktoren in Beznau sind inzwischen nicht mehr die einzigen, die über die geplante Laufzeit hinaus betrieben werden. Seit 2019 befindet sich auch der Druckwasserreaktor in Gösgen im verlängerten Betrieb. Auch hier hat der Betreiber einen Sicherheitsnachweis für den Langzeitbetrieb eingereicht. Die Prüfung des Berichts dauert noch an.

2024 überschreitet mit dem Siedewasserreaktor in Leibstadt schließlich das letzte Schweizer AKW seine auslegungsgemäße Betriebszeit. Wann der entsprechende Sicherheitsnachweis der Öffentlichkeit präsentiert wird, ist nicht bekannt. Es scheint aber schon heute klar, dass auch Leibstadt einen Vertrauensvorschuss erhält und den verlängerten Betrieb aufnehmen wird, bevor der entsprechende Sicherheitsnachweis abschließend geprüft wurde.

Grobe Sicherheitsmängel auch in Leibstadt

Dass und warum der Umgang mit verlängerten Laufzeiten der Schweizer AKW aus einer Perspektive der nuklearen Sicherheit unbefriedigend ist, zeigt eine neue Studie, die im Auftrag der SES entstanden ist (siehe Info-Box). Der Autor und deutsche Reaktorsicherheitsexperte, Prof. Dr. Ing. Manfred Mertins, tut das, was die offiziellen Sicherheitsprüfungen unterlassen: Er misst die Sicherheitstechnik der alten AKW an heutigen Standards und weist Abweichungen zum Stand der Wissenschaft und Technik aus. In diesem Licht wirkt die stiefmütterlich behandelte Sicherheitsfrage noch weit drängender.

„Das ENSI sieht die Anforderungen an das Konzept der gestaffelten Sicherheitsvorsorge im Kernkraftwerk Leibstadt (KKL) erfüllt“, schrieb die Aufsichtsbehörde im Oktober 2019 auf ihrer Website, „wenn auch Verbesserungsbedarf besteht“. Trotzdem kam das ENSI insgesamt zum offenbar beruhigend gemeinten Schluss, die Schutzziele seien gemäß der PSÜ „weitestgehend “ erfüllt worden. So ganz beruhigen konnte diese Beurteilung aber nicht. Deswegen hat die SES Manfred Mertins gebeten, einen zweiten, unabhängigen Blick auf die PSÜ-Stellungnahme des AKW Leibstadt zu werfen. Das Ergebnis des Reaktorsicherheitsexperten ist eine lange Liste mit Sicherheitsdefiziten, Abweichungen von internationalen Standards und eine immense Distanz zum heutigen Wissensstand im Bereich der Reaktorsicherheitstechnik.

Dass diese Abweichungen in Hochrisikoanlagen Probleme darstellen, ist unbestritten. Allerdings sind solche Defizite bei großzügiger Auslegung des heute geltenden Regelwerks erlaubt. Damit stellt sich die ganz grundsätzliche Frage: Ist die Schweiz auf einen verlängerten Betrieb ihrer AKW genügend vorbereitet? Es kommen ernste Zweifel auf, wenn man auf die massiv reduzierten Sicherheitsanforderungen für bestehende AKW, auf die unglaubliche Kulanz bei mangelhafter Umsetzung von fundamentalen Sicherheitskonzepten oder auf die viel zu oberflächlichen Sicherheitsprüfungen für den verlängerten Betrieb schaut.

Der Elefant im Raum

Was die Studie zum AKW Leibstadt ausführlich und umfassend zeigt, gilt letztlich auch für die noch älteren Schweizer Atomkraftwerke: Sie erfüllen grundsätzliche Anforderungen an die nukleare Anlagensicherheit nicht mehr und werden nur deshalb weiter betrieben, weil das Regelwerk enormen Spielraum bietet und das ENSI toleriert, dass die Betreiber diesen Spielraum bis zum Äußersten ausnutzen. Auf politischer Ebene werden wiederum Laufzeitexperimente gefordert. Dies in der falschen Annahme, dass die gesetzlichen und regulatorischen Rahmenbedingungen dafür ausreichen. Das Sicherheitsrisiko beim verlängerten AKW-Betrieb ist der sprichwörtliche „Elefant im Raum“: Das Problem ist offensichtlich vorhanden, wird aber nicht angesprochen – ganz im Bewusstsein, dass eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Sicherheitsdefiziten weitreichende Konsequenzen für die Schweizer Atomindustrie nach sich ziehen würde.

Fabian Lüscher ist Leiter des Fachbereichs Atomenergie bei der Schweizerischen Energie-Stiftung SES. Der Artikel ist zuerst im Magazin Energie&Umwelt 4/2021 erschienen. (Mail: fabian.luescher@energiestiftung.ch)

->Quelle: energiestiftung.ch/id-2021-4-der-elefant-im-raum