Einfuhr grünen Wasserstoffs kein Selbstläufer
Viele Regierungen und auch die Europäische Kommission streben die Klimaneutralität für das Jahr 2050 oder früher an. Ein Baustein in vielen Plänen ist der Import von grünem Wasserstoff und Methan aus Nordafrika oder dem Mittleren Osten, wo der verlässliche Sonnenschein geringe Stromkosten für den Betrieb von Elektrolyseuren verspricht. Synthetische Kraftstoffe und Heizöl oder -gas aus Strom hätten den Charme, viel bestehende Technik und Infrastruktur einfach klimaneutral weiter zu betreiben. Doch noch ist unklar, wie Regierungen den internationalen Handel mit grünen Kraftstoffen initiieren und wirtschaftlich gestalten können. Eine Studie unter Beteiligung der Fraunhofer-Einrichtung für Energieinfrastrukturen und Geothermie (IEG, Cottbus und Bochum) hat nun die wesentlichen Aspekte zusammengestellt. Sie bewertet das Potenzial von Energieimporten aus benachbarten Sonnenstaaten am 18.01.2022 im Fachjournal Computers & Industrial Engineering.
Unter den getroffenen Grundannahmen berechnet die Untersuchung detailliert Preise für grünen Wasserstoff und Methan von mehr als 100 Euro je Megawattstunde 2030 und knapp unter 100 €/MWh für 2050. Aktuell beträgt der Preis für Methan am europäischen Rohstoffmarkt rund 30 €/MWh. „Die hohen Kosten zeigen, dass der Import von E-Fuels nach Europa kein billiges Patentrezept ist, um Engpässe beim Ausbau der erneuerbaren Energien zu umgehen oder eine Transformation auf der Angebotsseite zu erreichen“, warnt Ben Pfluger vom Fraunhofer IEG. Die Kosten für E-Fuels müssen gegen andere Optionen abgewogen werden. Für die Wettbewerbsfähigkeit der Wasserstoffimporte aus Nordafrika und dem Mittleren Osten nach Europa sind zwei Dinge ausschlaggebend: Vergleichbare Risikoaufschläge für Investitionskapital wie in Europa und geringe Transportkosten. Darmehr als hinaus kann der gebremste Ausbau der Erneuerbaren Energien in Europa, etwa durch fehlende Ausbauflächen für Windkraft und Photovoltaik, Importe begünstigen.
Die vorliegende detaillierte Analyse der Produktionsketten von synthetischen Kraftstoffen und die Berücksichtigung des Transports verdeutlichen auch die Komplexität und die schiere Größe dieser potenziellen Projekte. Zu oft werden grüner Wasserstoff- und Kraftstoff-Importe als Lückenfüller in nationalen Energiewendestrategien verwendet. Die genauere Analyse zeigt, dass diese Projekte zu groß und zu kostspielig sind, um ohne starke politische Unterstützung und ohne hohe Sicherheit durchgeführt zu werden, dass die Energieprodukte auch langfristig zu vereinbarten Preisen abgenommen werden.
Kernpunkte der Analyse
- Entwurf integrierter E-Kraftstoff-Produktionsketten für die MENA-Region;
- Elektrizitätsbasierte Wasserstoff- und Methanversorgungskurven für MENA 2030 und 2050;
- Integrierte Optimierung von Stromerzeugung und E-Fuel-Produktion;
- Vergleich der Wasserstoffproduktionskosten in MENA und Europa.
Zusammenfassung des Computers & Industrial Engineering-Artikels
Die Nutzung von strombasierten Kraftstoffen (E-Fuels) ist eine mögliche Strategiekomponente zur Erreichung der Treibhausgasneutralität in der Europäischen Union (EU). Da erneuerbare Stromproduktionsstätten in der EU selbst knapp und relativ teuer sein könnten, könnte der Import von E-Fuels aus dem Nahen Osten und Nordafrika (MENA) eine ergänzende und kosteneffiziente Option sein. Mit Hilfe des Energiesystemmodells Enertile*) werden Versorgungskurven für Wasserstoff und synthetisches Methan in der MENA-Region für die Jahre 2030 und 2050 ermittelt, um diese Importoption techno-ökonomisch zu bewerten. Das Modell optimiert Investitionen in erneuerbare Stromerzeugung, E-Fuel-Produktionsketten und lokale Stromtransportinfrastrukturen. Die Analyse der Potenziale der erneuerbaren Stromerzeugung zeigt, dass insbesondere die MENA-Region mehr als große kostengünstige Solarstrompotenziale verfügt. Die Optimierungsergebnisse in Enertile zeigen, dass bei gewichteten durchschnittlichen Kapitalkosten von 7 % eine erhebliche Wasserstoffproduktion ab 100 €/MWhH2 im Jahr 2030 und ab 70 €/MWhH2 im Jahr 2050 möglich ist. Die Produktion von synthetischem Methan beginnt in den Modellergebnissen bei mehr als 170 €/MWhCH4 2030 und bei mehr als 120 €/MWhCH4 2050.
Die wichtigste Kostenkomponente bei beiden Kraftstoffproduktionswegen ist der Strom. Unter Berücksichtigung der Transportkostenzuschläge ist in Europa synthetisches Methan aus MENA 2030 für mehr als 180 €/MWhCH4 und 2050 für mehr als 130 €/MWhCH4 erhältlich. Wasserstoffexporte aus MENA nach Europa kosten mehr als 120 €/MWhH2 im Jahr 2030 und mehr als 90 €/MWhH2 im Jahr 2050. Bei der Ausfuhr nach Europa sind beide E-Kraftstoffe in verflüssigter Form teurer zu produzieren und zu transportieren als in gasförmiger Form. Ein Vergleich der europäischen Wasserstoffversorgungskurven mit Wasserstoffimporten aus MENA für 2050 zeigt, dass Importe nur dann wirtschaftlich effizient sein können, wenn die beiden folgenden Bedingungen erfüllt sind: Erstens herrschen in der EU und in MENA ähnliche Zinssätze; zweitens konvergieren die Wasserstofftransportkosten am billigen Ende der in der aktuellen Literatur angegebenen Spanne. Abgesehen davon kann eine Verknappung der Flächen für die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien in Europa zu Wasserstoffimporten aus MENA führen. Diese Analyse soll dazu beitragen, die europäische Industrie- und Energiepolitik zu lenken, den Bedarf an Importinfrastruktur zu planen und einen analytischen Rahmen für Projektentwickler in der MENA-Region zu schaffen.
*) Enertile (Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung [ISI], 2019) ist ein Softwarepaket zur Optimierung zukünftiger Kosten der Energieversorgung in Europa und der MENA-Region. Es kombiniert die vernetzte Versorgung mit Strom, Wärme und strombasierten Brennstoffen mit hochaufgelösten Potenzialen der Solar- und Windenergie. Enertile, ein Optimierungsmodell mit hoher technischen, räumlichen und zeitlichen Auflösung, ermittelt das kostenminimale Technologieportfolio zur gleichzeitigen Deckung des exogen vorgegebenen Strom-, Wärme- und E-Fuel-Bedarfs. Für die Berechnungen in der MENA-Region werden jedoch nur die Module Strom- und E-Fuel-Versorgung verwendet.
Politische Entscheidungsträger, die den Import von grünem Wasserstoff oder Kraftstoffen anstreben, sollten jetzt mit der Entwicklung von Maßnahmen in dieser Richtung beginnen, da Infrastrukturprojekte in der hier diskutierten Größenordnung eine beträchtliche Vorlaufzeit haben. Die Analyse zeigt, dass die E-Fuel-Produktion in der Region von Nordafrika bis in den mittleren Osten zwar attraktiv ist, insbesondere aufgrund des hohen Solarpotenzials. Allerdings können Entwicklungen bei den Kapital- und Transportkosten die Vorteile der Region schmälern oder sogar zunichte machen.
Pioniere: Desertec und Dii
An der Studie arbeiteten Expertinnen und Experten des Fraunhofer IEG, des Fraunhofer ISI und der DVGW-Forschungsstelle am Karlsruher Instituts für Technologie zusammen. Experten des Fraunhofer ISI haben von 2010 bis 2012 an den Veröffentlichungen der Dii GmbH (dii-desertenergy.org/) mitgearbeitet – die exakt die oben beschriebenen Ziele vertrat, und heute noch vertritt. (siehe: agentur-zukunft.eu/2019/07/555-10-jahre-desertec-und-dii – und das Buch von Paul van Son und Thomas Isenburg: „Energiewende in der Wüste – Die Vision ist bereits Realität“: solarify.eu/emission-free-energy-from-the-deserts)
->Quellen und mehr:
- Johanna Gegenheimer, Katja Franke, Frank Sensfuß, Benjamin Pfluger:
Supply curves of electricity-based gaseous fuels in the MENA region, in: Computers & Industrial Engineering, https://doi.org/10.1016/j.cie.2021.107647 – Open Access: Creative Commons license - IEG.Fraunhofer.de/energieimporte-gruener-wasserstoff
- dii-desertenergy.org
- agentur-zukunft.eu/555-10-jahre-desertec-und-dii
- solarify.eu/emission-free-energy-from-the-deserts