Buch von Rolf Kreibich: Plädoyer für eine Zweite Aufklärung und Nachhaltige Entwicklung
Der Diplomphysiker und Soziologe Rolf Kreibich, langjähriger Direktor des Sekretariats für Zukunftsforschung an der Freien Universität Berlin, fordert in seinem jüngsten Buch (Noel-Verlag) nichts weniger als „eine Zweite Aufklärung“. Denn wir hätten den Fortschritt pervertiert, bis dahin, „dass die Entwicklung des Menschen an Punkte gelangen kann, von denen es keine reversible Rückkehr mehr gibt, die Selbstvernichtung also möglich ist: Tipping-Points oder Kipppunkte“. Die Atombombenabwürfe der USA auf Hiroshima und Nagasaki hätten erstmals grundlegende Zweifel daran hervorgerufen, dass die Wissenschaft im Verbund mit der daraus hervorgehenden modernen Technik immer nur unbeschränkten Fortschritt verheißt.
Kreibich, 1969 mit 31 Jahren als erster Assistent zum Präsidenten einer (west-)deutschen Universität gewählt, hatte bereits in seiner Dissertation (1985) „Die Wissenschaftsgesellschaft: von Galilei zur High-Tech-Revolution“ gefordert, dass Wissenschaft und Technik im Sinne der Nachhaltigkeit eingesetzt werden müssten. Die Arbeit ist heute ein Standardwerk. In seinem neuen Buch zeigt Kreibich, wie „der mit der wissenschaftlich-technisch-industriellen Entwicklung verbundene ,Fortschritt‘ und der sich ständig verfestigende Fortschrittsglaube alle lndustrie- und Schwellenländer erfasste. Unabhängig von ihren gesellschaftlichen oder staatlichen Verfasstheiten avancierte dieser wissenschaftlich-technische Fortschritt zum gesellschaftlichen Fortschritt schlechthin. Immerhin hat dieses ,Wissenschafts-Technik-lndustrie-Paradigma‘ (WlTl-Pamdigma) über drei Jahrhunderte für einen Großteil der Menschen in den Industrieländern wachsenden Wohlstand, Bildung, Ausbildung, Arbeit, Wohnen, mehr Gesundheit und hohe Mobilität erbracht. Die auf der Schattenseite dieser Entwicklung massiven Zerstörungspotenziale auf dem Planeten Erde einschließlich der Vernichtung von Abermillionen von Menschen und menschlichen Kulturleistungen wurden im Rahmen dieses Fortschrittsrausches weitgehend negiert. Sie spielten im realen Handeln der Völker und Staaten keine vorrangige Rolle. Vor diesem Hintergrund befinden wir uns nunmehr vor einer Welle von Megakrisen. deren Bewältigung die größten Herausforderungen seit der Entwicklung des Homo sapiens bedeuten.“
Zur Lage der Menschheit – Zwei Welt-Leitbilder
In ersten Kapitel Zur Lage der Menschheit – zwei Welt-Leitbilder stellt Kreibich dar, wie es historisch dazu gekommen ist, dass die Menschheit heute vor mehreren dieser Tipping-Points stehe, von denen es – wie der Name sagt – „bei Überschreitung einer bestimmten Belastung/Störung/Zerstörung keine Umkehr mehr gibt. Wir kennen das Problem schon seit vielen Jahren, dass komplexe Systeme bis zu einem gewissen Grad strapaziert werden können, dann aber an einer bestimmten Belastungsgrenze in kürzester Zeit zusammenbrechen oder ihre wichtigsten Funktionen verlieren. Heute ständen wir deshalb schließlich vor der größten Herausforderung der Geschichte. „Schon jetzt bedrohen Megakrisen unsere Existenz: Klimakrise, Verseuchung der Trinkwasserreservoire und der Meere, Vernichtung von Biodiversität, Schmelzen des Eismantels der Erde, Auftauen des Permafrosts“.
Wir haben kein Erkenntnisdefizit, denn der Autor legt dar, dass diese Entwicklung bereits seit Jahrzehnten durch die Wissenschaft, speziell die Ökosystemwissenschaft und die Zukunftsforschung vorgezeichnet worden sei. Zudem hätten viele Wissenschaftler und überstaatliche Organisationen „unmissverständlich vor dem menschlichen Kollaps gewarnt. Spätestens seit der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro haben die in der UNO zusammengeschlossenen Staaten mit der Rio-Deklaration diese Warnung einvernehmlich bekundet und mit der Agenda 21 das neue zukunftsfähige Leitbild der Nachhaltigen Entwicklung verabschiedet. Mit der Agenda 21 wurde sogar ein Handlungsprogramm für das 21. Jahrhundert beschlossen, das konkrete Ziele, Strategien und Maßnahmen für das Handeln der Staaten und Völker enthielt.“ Doch es hapert an der Umsetzung.
Ein optimistisches Buch
Kreibich bleibt dennoch Optimist: im zweiten Kapitel Zukunftswissenschaft und Nachhaltige Entwicklung zeigt er, „dass wir heute noch die Möglichkeit zur Umkehr haben. Insofern ist das Buch keine Darstellung eines Katastrophen-Szenarios, sondern vermittelt wissenschaftsbasierte Erkenntnisse und Fakten, wie wir aus den selbstverschuldeten Sackgassen herauskommen können. Es ist insgesamt ein optimistisches Buch.“ Denn seit vielen Jahren versuchten „die moderne Zukunftswissenschaft, die Ökosystemforschung und die konträr zur Mainstream-Wirtschaftswissenschaft stehende Nachhaltige Wirtschaftsforschung aufzuzeigen, dass es Strategien und Methoden gibt, die komplexen Zukunftsprobleme und Megakrisen, also die Folgen des unbegrenzten Wachstums von Produktion und Konsumtion, zu überwinden.“ Schon in der 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts hätten in den USA „multi- und interdisziplinäre Zusammenarbeit von Wissenschaftlern ganz unterschiedlicher Fachbereiche“ (Natur- und Technikwissenschaften, aber auch der Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften, der Mathematik und Linguistik) „höchst erfolgreich komplexe und vernetzte Probleme“ erfasst. Beteiligt waren sowohl Exponenten der . Hier bildeten sich äußerst fruchtbare neue Wissenschaftsdisziplinen heraus, die ganz neue Zugänge zu den brennenden Krisen der Zeit erschließen konnten: Systemwissenschaft, Systemtechnik, Kybernetik, Informations- und Kommunikationswissenschaft, Operations Research, Informatik etc, Diese wiederum kreierten zahlreiche neue Methoden zur Erfassung von Zukünften mittlerer Reichweite wie die Szenario-Methode, Simulationstechniken. Delphi-Methode, Cross-Impact-Analyse und zahlreiche weitere algorithmisierbare Forschungstechniken. Sie waren auch die Voraussetzung für die berühmten Zukunftsstudien ,Grenzen des Wachstums’ 1972 und die sich anschließenden Weltmodelle der Zukunftsentwicklung.“
Ganz anders in Europa. Hier entstand eine stärker sozial (und sozialdemokratisch) geprägte Zukunftswissenschaft. Dabei spielten die Folgen des Zweiten Weltkriegs eine überragende Rolle bei der Erforschung und Entwicklung zukunftsfähiger Wirtschafts-, Sozial- und Gesellschaftsperspektiven. Prägenden Einfluss hatten dann die Bürgerbewegungen gehabt – sie hätten nicht nur entscheidend das skandinavische Gesellschaftsmodell geprägt, sondern auch die europäische Zukunftswissenschaft allgemein: Die Grundlagen zur Realisierung des neuen Welt-Leitbildes der Nachhaltigen Gesellschaftsentwicklung seien gelegt worden – Beispiel der 1987 veröffentlichte Brundtland-Bericht Our Common Future (Unsere gemeinsame Zukunft). In Deutschland griffen später außerstaatliche Institute der Umwelt- und Zukunftswissenschaft und der ökologischen Wirtschaftsforschung die nordeuropäischen humanistischen Ansätze auf und entwickelten in Kooperation mit sozialen Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen das neue Welt-Leitbild der Nachhaltigen Entwicklung weiter. Die Politik dagegen habe sich zwischen 2002 bis 2020 mit Verkündungen hehrer Ziele und Maßnahmen begnügt, von denen nicht mehr als 10 % realisiert worden seien. Kreibich konstatiert diesbezüglich ein Versagen – „vor allem in der Energie- und Klimapolitik“ – dieses habe sich auf fast alle Politikbereiche negativ ausgewirkt und zu den heutigen Megakrisen geführt.
In Kapitel III Aufklärung und Nachhaltige Entwicklung wird dargelegt, „dass wir heute noch die Möglichkeiten haben, aus den Sackgassen der Wachstumsgesellschaft herauszukommen.“ Das Buch soll in erster Linie zum nachhaltigen Denken und Handeln auffordern und anleiten. Dennoch reicht es laut Kreibich nicht mehr aus, „ohne einen grundlegenden Paradigmenwechsel auf dem drei Jahrhunderte ,erfolgreichen’ Pfad der Ersten Aufklärung zu beharren“. Die kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen hätten durch zerstörerische Ausbeutung der Erde die lebensnotwendigen Grundlagen der menschlichen Existenz bedroht. Es sei nun eigentlich zu erwarten gewesen, „dass das optimistische und konkret umsetzbare Leitbild der nachhaltig-zukunftsfähigen Perspektive die nächste Periode der Menschheitsentwicklung bestimmen würde“.
Kreibich warnt allerdings davor, hierfür einen Automatismus zu erwarten. Denn seit Ende des 20. Jahrhunderts breiteten sich weltweit „Tendenzen einer mächtigen Bewegung der Antiaufklärung“ aus – „eine Welle von extremen Organisationen, Netzwerken und Einzelpersonen. die sowohl in demokratischen Staaten als auch in autoritären Ländern antiaufklärerische Ideologien und Umtriebe verstärken“. Auch in Deutschland sind die Antiaufklärer im Vormarsch. Neu seien „Hass, Hetze und Gewaltbereitschaft gegenüber dem demokratischen Staat und dessen Vertretern in Kommunen und Institutionen“. Bis hin zur „Unterwanderung unserer staatlichen Institutionen“: Viele Rechtsextremisten in Polizei, Geheimdiensten, der Bundeswehr und ihrer Eliteeinheit ,KSK Kommando Spezialkräfte’ sind laut Kreibich „eine akute Gefahr für den Bestand der Demokratie“. Entsprechend überfordert und verunsichert fühlen sich viele Menschen.
Die „Zweite Aufklärung“ müsse neue Wertegrundlagen, Denk- und Verhaltensweisen für den Weg in die Nachhaltige Entwicklung schaffen. Hierfür legt Kreibich „die reale Vision einer Zweiten Aufklärung dar. Nur wenn eine gesellschaftliche Mehrheit diese annimmt, werden die Bürger ihre Lebenswelten weitgehend selbstbestimmt im Sinne der Nachhaltigkeit entwickeln können. So sollte sich die Erkenntnis durchsetzen, dass der Nutzen materieller Güter begrenzt ist und die Höhe der Einkommen und Vermögen nicht unmittelbar mit der Zunahme an Lebensqualität und Lebenssinn korreliert.“ Es werde „einen grundlegenden Paradigmenwechsel geben: Der Wertekonsens sollte deshalb lauten: ‚Sein statt Haben’ – als Pole verschiedener Lebensstile zu verstehen“. Die Zweite Aufklärung fördere eine „Verschiebung des Wertesystems hin zu mehr Solidarität und altruistischem Verhalten. Wer stärker nach dem Sein-Prinzip lebt, wird bald erkennen, dass der Einsatz für das Gemeinwohl mindestens längerfristig mehr Vorteile und Befriedigung bringt.“
In sieben Handlungsfeldern hat Kreibich Erkenntnisse und Erfahrungen sowie erforderliche Maßnahmen für einen erfolgreichen Weg in eine nachhaltig-zukunftsfähige Entwicklung zusammengestellt:
- Nachhaltige Ökonomie
- Nachhaltige Finanzwende
- Nachhaltige Energie- und Klimapolitik
- Nachhaltige Land- und Ernährungswirtschaft
- Nachhaltige Entwicklungszusammenarbeit
- Handlungsfeld Familie, Kinder, Jugendliche
- Nachhaltige Bildung und Ausbildung
Diese sieben Nachhaltigkeitsaspekte erläutert Kreibich im vierten und letzten Kapitel seines Buches – Kreibichs Fazit: „Das Buch soll aufzeigen, dass wir endlich selbstbestimmt und selbstorganisiert handeln müssen. Deshalb fordere ich, dass Deutschland eine Vorreiterrolle spielen soll. Deutschland ist eine wichtige Industrienation und kann zeigen, dass Nachhaltige Entwicklung möglich ist und Zukunftsfähigkeit schafft. Natürlich brauchen wir auch die anderen Staaten und Völker, denn unsere Welt ist ein vernetztes System.“