Chemische Zusammensetzung der Sonne geklärt

Neue Spektrums-Rechnungen beenden jahrzehntelange Kontroverse

Astronomen haben einen jahrzehntelangen Konflikt beendet. Bislang führten Rekonstruktionen des inneren Aufbaus der Sonne aus der Analyse von Sonnenschwingungen (Helioseismologie) nicht zu der Struktur, die sich aus der grundlegenden Theorie der Sternentwicklung ergibt, die wiederum auf Messungen der chemischen Zusammensetzung der heutigen Sonne beruht. Neue Rechnungen des Heidelberger Max-Planck-Instituts für Astronomie zur Physik der Sonnenatmosphäre korrigieren die Häufigkeitswerte für mehrere chemische Elemente. Insbesondere enthält die Sonne mehr Sauerstoff, Silizium und Neon als bisher angenommen. Damit verschwindet die Struktur-Diskrepanz. Die verwendeten Methoden versprechen auch ganz allgemein genauere Schätzungen der chemischen Zusammensetzung von Sternen. Am 20.05.2022 open access in Astronomy & Astrophysics veröffentlicht.

Sonne – Foto © Gerhard Hofmann, Agentur Zukunft, für Solarify

Was tun, wenn eine bewährte Methode zur Bestimmung der chemischen Zusammensetzung der Sonne im Widerspruch zu einer innovativen, präzisen Technik zur Kartierung des Aufbaus der Sonne zu stehen scheint? Das war die Situation, mit der Astronomen bei der Erfoschung der Sonne in den letzten Jahren konfrontiert waren – bis neue Berechnungen, die Ekaterina Magg, Maria Bergemann und ihre Kolleg*innen jetzt veröffentlicht haben, den scheinbaren Widerspruch auflösten.

Astrochemie mit Spektren

Die bewährte Methode, um die es geht, ist die Spektralanalyse. Um die chemische Zusammensetzung unserer Sonne oder anderer Sterne zu bestimmen, greifen Astronom*innen routinemäßig auf Spektren zurück: auf regenbogenartige Zerlegungen des Lichts in seine verschiedenen Wellenlängen. Sternspektren enthalten auffällige, scharfe dunkle Linien, die erstmals 1802 von William Wollaston entdeckt, 1814 von Joseph von Fraunhofer wiederentdeckt und in den 1860er Jahren von Gustav Kirchhoff und Robert Bunsen als Anzeichen für das Vorhandensein bestimmter chemischer Elemente erkannt wurden.

Die bahnbrechende Arbeit des indischen Astrophysikers Meghnad Saha im Jahr 1920 zeigte den quantitativen Zusammenhang zwischen der Stärke dieser „Absorptionslinien“ und der Sterntemperatur sowie der chemischen Zusammensetzung auf. Das lieferte die Grundlage für unsere physikalischen Modelle von Sternen. Cecilia Payne-Gaposchkins Erkenntnis, dass Sterne wie unsere Sonne hauptsächlich aus Wasserstoff und Helium und nur in Spuren aus schwereren chemischen Elementen bestehen, basiert auf dieser Arbeit.

Sonnenschwingungen erzählen eine andere Geschichte

Die zugrundeliegenden Rechnungen, die spektrale Eigenschaften einerseits, chemische Zusammensetzung und Physik des stellaren Plasmas andererseits in Beziehung setzen, sind für die Astrophysik seit Sahas Zeiten von entscheidender Bedeutung. Sie bildeten die Grundlage für jahrhundertelangen Fortschritt beim Verständnis der chemischen Entwicklung des Universums ebenso wie für die Rekonstruktionen der physikalischen Struktur und zeitlichen Entwicklung von Sternen und Exoplaneten. Es war daher ein ziemlicher Schock, als neue Beobachtungsdaten verfügbar wurden, Einblicke in das Innenleben unserer Sonne ermöglichten – aber die Ergebnisse mit dem, was man auf Basis der Spektren rekonstruiert hatte, partout nicht zusammenpassten.

Das moderne Standardmodell der Sonnenentwicklung wird anhand einer (in der Sonnenphysik) berühmten Messreihe zur chemischen Zusammensetzung der Sonnenatmosphäre kalibriert, die 2009 veröffentlicht wurde. Bei den neuartigen Daten handelt es sich um sogenannte helioseismische Daten, also Messungen, die sehr genau die winzigen Schwingungen der Sonne als Ganzes erfassen – die Art und Weise, wie sich die Sonnenoberfläche in charakteristischen Mustern rhythmisch ausdehnt und zusammenzieht, auf Zeitskalen zwischen Sekunden und Stunden.

So wie seismische Wellen den Geologen wichtige Informationen über das Erdinnere liefern, oder der Klang einer Glocke Informationen über ihre Form und Materialeigenschaften, liefert die Helioseismologie Informationen über das Innere der Sonne.

Eine Krise der Sonnenchemie

Aus hochpräzisen helioseismischen Messungen konnte man Rückschlüsse auf die innere Struktur der Sonne ziehen, die im Widerspruch zu den auf der Sonnenchemie basierenden Standardmodellen vom Aufbau unseres Sterns standen. Konkret war der Helioseismologie zufolge der so genannte konvektive Bereich im Inneren unserer Sonne, in dem Materie aufsteigt und wieder absinkt wie Wasser in einem Kochtopf, wesentlich größer, als es das Standardmodell vorhersagte. Auch die Geschwindigkeit der Schallwellen in den unteren Regionen der Konvektionszone wich von den Vorhersagen des Standardmodells ab, ebenso wie die Gesamtmenge an Helium in der Sonne. Zu allem Überfluss passten außerdem bestimmte Messungen von Sonnenneutrinos – flüchtige, schwer nachweisbare Elementarteilchen, die uns direkt aus den Kernregionen der Sonne erreichen – nicht recht zum Standardmodell.

Die Astronomen sprachen bald von einer „solar abundance crisis“, sinngemäß einer Sonnenchemie-Krise. Die Lösungsvorschläge waren ungewöhnlich bis exotisch: Hatte die Sonne während ihrer Planetenentstehungsphase vielleicht metallarmes Gas angehäuft? Wird die Energie im Sonneninneren von den eigentlich ja nicht wechselwirkenden Teilchen der dunklen Materie transportiert?

Rechnungen jenseits des lokalen thermischen Gleichgewichts

Die jetzt veröffentlichte Studie von Ekaterina Magg, Maria Bergemann und Kollegen präsentiert eine Lösung, die ganz ohne exotische Physik auskommt. Sie bietet stattdessen eine grundlegende Überarbeitung der Modelle, auf deren Basis vom Sonnenspektrum auf die chemischen Zusammensetzung geschlossen wird. Frühe Studien dieser Art stützten sich auf die Annahme eines sogenannten lokalen thermischen Gleichgewichts: Sie gingen davon aus, dass die Energie in jedem Bereich der Atmosphäre eines Sterns in jeder der Entwicklungsphasen Zeit hat, sich zu verteilen und eine Art Gleichgewicht zu erreichen. Damit kann man jeder solchen Region eine Temperatur zuordnen. Das führt zu einer erheblichen Vereinfachung der Berechnungen.

Doch bereits in den 1950er Jahren hatten einige Astronomen erkannt, dass dieses Bild zu stark vereinfacht war. Seitdem werden in immer mehr Studien so genannte Nicht-LTE-Berechnungen durchgeführt, bei denen die Annahme eines lokalen Gleichgewichts (englisch local thermal equilibrium, LTe) entfällt. Die Nicht-LTE-Berechnungen bieten eine detaillierte Beschreibung des Energieaustauschs innerhalb des Systems – Atome werden durch Photonen (Lichtteilchen) angeregt oder stoßen zusammen, Photonen werden emittiert, absorbiert oder gestreut. In Sternatmosphären, in denen die Dichte viel zu gering ist, als dass das System ein thermisches Gleichgewicht erreichen könnte, zahlt sich diese Art von Detailgenauigkeit aus. Dort liefern Nicht-LTE-Berechnungen Ergebnisse, die sich deutlich von den Rechnungen unterscheiden, die ein lokales thermisches Gleichgewicht postulieren.

Anwendung von Non-LTE auf die Photosphäre unserer Sonne

Die Gruppe von Maria Bergemann am Max-Planck-Institut für Astronomie ist weltweit führend bei der Anwendung von Nicht-LTE-Berechnungen auf Sternatmosphären. Im Rahmen ihrer Doktorarbeit in dieser Gruppe machte sich Ekaterina Magg daran, die Wechselwirkung der Strahlung mit der Materie in der Sonnenphotosphäre genauer zu berechnen – die Photosphäre ist diejenige äußere Schicht der Sonnenatmosphäre, aus der das meiste nach außen abgestrahlte Licht der Sonne stammt und in der auch die Absorptionslinien im Sonnenspektrum eingeprägt sind.

In der betreffenden Studie betrachteten die Wissenschaftler*innen alle chemischen Elemente, die für die aktuellen Modelle der Sternevolution relevant sind. Um sicherzustellen, dass sie dabei konsistente Ergebnisse erhielten, wendeten die Forscher*innen gleich mehrere unabhängige Methoden zur Beschreibung der Wechselwirkungen zwischen den Atomen und dem Strahlungsfeld der Sonne an. Für die Beschreibung der konvektiven Regionen unserer Sonne verwendeten sie bestehende Simulationen, die sowohl die Bewegung des Plasmas als auch die Strahlungsphysik berücksichtigen („STAGGER“ und „CO5BOLD“). Für den Vergleich mit Spektraldaten wählten sie den Datensatz mit der höchsten verfügbaren Qualität: das vom Institut für Astrophysik und Geophysik der Universität Göttingen veröffentlichte Sonnenspektrum. „Wir haben uns dabei intensiv mit der Analyse von statistischen und systematischen Effekten beschäftigt, die die Genauigkeit unserer Ergebnisse einschränken“, erklärt Magg.

Eine Sonne mit mehr Sauerstoff und mehr schwereren Elementen

Die neuen Berechnungen ergaben eine für einige Elemente deutlich andere Beziehung zwischen der Elementhäufigkeit und der Stärke der entsprechenden Spektrallinien als in früheren Arbeiten. Entsprechend kommen im Vergleich zu früheren Analysen deutlich andere chemische Häufigkeiten heraus, wenn man das beobachtete Sonnenspektrum analysiert.

Magg sagt: „Wir haben festgestellt, dass der Anteil an schwereren Elementen als Helium in der Sonne 26% höher liegt, als in früheren Studien behauptet“. Diese schwereren Elemente nennen Astronom*innen Metalle. Insgesamt machen Metalle nur einige tausendstel Prozent aller Atomkerne in der Sonne aus; die beste Schätzung für diesen Wert liegt jetzt um 26% höher als in früheren Studien. Magg fügt hinzu: „Der Wert für die Sauerstoffhäufigkeit war fast 15% höher als in früheren Studien.“ Die neuen Werte stimmen gut mit der chemischen Zusammensetzung von primitiven Meteoriten („CI-Chondriten“) überein, von denen man annimmt, dass sie der chemischen Zusammensetzung des frühen Sonnensystems entsprechen.

Krise überwunden!

Setzt man die neuen Werte als Input in die Modelle des Aufbaus und der Entwicklung der Sonne ein, dann verschwindet die rätselhafte Diskrepanz zwischen den Ergebnissen jener Modelle und den helioseismischen Messungen. Die gründliche Analyse der Entstehung der Spektrallinien durch Magg, Bergemann und ihre Kollegen, die sich auf wesentlich vollständigere Modelle der zugrunde liegenden Physik stützt als vorangehende Arbeiten, zeigt, wie sich die Krise überwinden lässt. Maria Bergemann sagt: „Die neuen Sonnenmodelle, die auf den von uns bestimmten neuen Werten für die chemische Zusammensetzung beruhen, sind realistischer als je zuvor: Sie ergeben ein Modell der Sonne, das mit allen Informationen, die wir über die heutige Struktur der Sonne haben – Schallwellen, Neutrinos, Leuchtkraft und Sonnenradius – übereinstimmt, ohne dass man  exotische Physik im Sonneninneren heranziehen muss.“

Ein zusätzlicher Vorteil ist, dass sich die neuen Modelle leicht auf andere Sterne als die Sonne anwenden lassen. In einer Zeit, in der groß angelegte Durchmusterungen wie SDSS-V und 4MOST qualitativ hochwertige Spektren für eine immer größere Anzahl von Sternen liefern, ist diese Art von Fortschritt in der Tat wertvoll – und stellt künftige Analysen der Sternchemie mit ihren umfassenderen Auswirkungen auf Rekonstruktionen der chemischen Entwicklung unseres Kosmos auf eine solidere Grundlage als je zuvor.

->Quelle und weitere Informationen:

  • mpia.de/news_publication_18647607
  • Originalveröffentlichung: Ekaterina Magg, Maria Bergemann, Aldo Serenelli, Manuel Bautista4, Bertrand Plez, Ulrike Heiter, Jeffrey M. Gerber, Hans-Günter Ludwig, Sarbani Basu, Jason W. Ferguson, Helena Carvajal Gallego, Sébastien Gamrath, Patrick Palmeri und Pascal Quinet: Observational constraints on the origin of the elements. IV: The standard composition of the Sun, in Astronomy & Astrophysics, https://doi.org/10.1051/0004-6361/202142971open access