EU-Parlamentarier machen Front gegen Taxonomie

Parteiübergreifende Koalition will  verhindern, dass Kernenergie und fossiles Gas als grüne Investitionen eingestuft werden

Eine parteiübergreifende Koalition im Europäischen Parlament versucht, die Aufnahme von Kernenergie und fossilem Gas als „Übergangs“-Energiequellen in die Liste der grünen Investitionen der EU zu verhindern. Umwelt- und Wirtschaftsausschuss des EU-Parlaments haben am 14.06.2022 über einen Vorschlag der EU-Kommission abgestimmt, der Investitionen in Gas und Atomkraft als klimafreundlich definiert – so das Portal EURACTIV am selben Tag. Die EU-Kommission hatte vorgeschlagen, die beiden Energiequellen in die sogenannte Taxonomie aufzunehmen. Da die Mehrheit einem Entschließungsantrag zur Ablehnung des Kommissionsvorschlags zugestimmt hat, wird das Plenum des EU-Parlaments in der ersten Juliwoche über die Ablehnung des Kommissionsvorschlags entscheiden. Stimmt eine Mehrheit des Plenums dafür, wäre der Kommissionsvorschlag gescheitert und die beiden Energiequellen würden nicht in die Taxonomie aufgenommen.

EU-Fahne – Foto © Gerhard Hofmann, Agentur Zukunft, für Solarify

2022 hatten Abgeordnete aus fünf verschiedenen Fraktionen im Rahmen einer Pressekonferenz in Straßburg erläutert, warum sie gegen die Aufnahme von fossilem Gas und Kernenergie in eine Liste grüner Investitionen sind. Die parteiübergreifende Koalition hat einen Einspruch gegen die Inklusion von Erdgas und Atomkraft in die EU-Taxonomie eingelegt, der am 14.06.2022 von den relevanten Ausschüssen des EU-Parlaments verabschiedet wurde, was als wichtiger Stimmungstest gesehen wurde.

„Für uns ist es natürlich nicht akzeptabel, Gas und Kernenergie als nachhaltig einzustufen und sogar zuzulassen, dass grüne Finanzmittel für die Zukunft derartige Projekte fördern“, sagte Christophe Hansen, ein Abgeordneter der Europäischen Volkspartei (EVP), in der gemeinsamen Pressekonferenz am 08.06.2022 mit Kollegen von Renew Europe, Grünen, Sozialisten und Demokraten (S&D) und der Linken gab. „Das heißt nicht, dass wir in den nächsten Jahren kein Gas und keine Kernenergie brauchen werden, aber wir sind der Meinung, dass wir die nachhaltige Finanzierung dafür nicht missbrauchen sollten“, so Hansen weiter. Es ist äußerst selten, dass sich ein so breites Spektrum von Fraktionen „mit der gleichen Stimme“ gegen etwas ausspricht, bemerkte Silvia Modig von der Linken und fügte hinzu: „Ich hoffe, das zeigt Ihnen, wie ernst das Parlament diese Forderung nimmt.“

Die Resolution wendet sich dagegen, Atomkraft und Gas als grün zu bezeichnen, vor allem nach dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine und dem Umgang der EU-Exekutive mit der Taxonomie. Allerdings ist es ungewiss, ob die nötige Zahl an Stimmen zussammen kommt. Inzwischen haben die Sozialdemokraten der S&D mitgeteilt, dass ihre gesamte Fraktion gegen das grüne Label für Atomkraft und Erdgas stimmen wird. Aus Reihen der Grünen/EFA war dies bereits seit Monaten bekannt. Das liberale Renew Europe, die EVP und die Linke sind in dieser Frage allerdings gespalten.

Die Skepsis gegenüber der Einbeziehung von Atomkraft und fossilem Gas findet auch in der Finanzwelt Widerhall. Während einer öffentlichen Anhörung am 30.05.2022 erklärte Nancy Saich, Chefexpertin für Klimawandel bei der Europäischen Investitionsbank (EIB), dass viele Investor:innen, die nach grümmnen Anlagemöglichkeiten suchen, nicht unbedingt ihr Geld in Atomkraft und Gas stecken wollen. „Wir möchten unsere Ressourcen nutzen, um uns auf kohlenstoffarme Lösungen zu konzentrieren, denn die Klimakrise ist nach wie vor sehr dringlich“, fügte sie hinzu. Seit der Aufnahme in die Liste wurde kritisiert, dass es sich dabei um einen politischen Schachzug handele, der nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen oder den Vorstellungen des Marktes beruhe.

„Bei dieser Abstimmung geht es letztlich darum, ob wir die Taxonomie zu einem weniger wissenschaftlich und weniger marktorientierten Instrument machen und stattdessen zu einem politischen Instrument“, sagte Hojsík. Es wird kritisiert, dass der delegierte Rechtsakt „zugunsten Deutschlands und Frankreichs manipuliert worden“ sei, so Tang. „Dies ist privates Geld, das für den Übergang benötigt wird und an die größten Länder geht, die durchaus in der Lage sind, die Transformation zu finanzieren, weshalb mehr und mehr Delegationen in der S&D erkennen, dass dieses Vorgehen nicht zum Vorteil [ihrer Länder] ist“, fügte er hinzu.

„Die Diskussion über Gas und Kernenergie, die schon seit einiger Zeit geführt wird, ist seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine wohl zu einer Mainstream-Debatte geworden“, so Boyer gegenüber EURACTIV. „Ich denke, dass einige Leute, die vielleicht die Vorteile einer zuverlässigen Versorgung mit emissionsfreier Kernenergie nicht in Betracht gezogen hatten, ihre Meinung überdacht haben“, fügte er hinzu.

In Frankreich könnte die Aufnahme der Kernenergie in die Taxonomie der alternden französischen Atomkraftwerkflotte zugutekommen. Das Land verfügt über 56 Reaktoren, von denen viele bald 40 Jahre alt werden oder sogar bereits sind. Im Oktober 2022 schätzte der französische Energiekonzern EDF den Investitionsbedarf für die Modernisierung seiner Kernkraftwerke auf 49,4 Milliarden Euro. Wenn die Kernenergie nicht in die Taxonomie aufgenommen wird, könnte das Überleben von EDF in Gefahr sein und die Energiesicherheit Frankreichs gefährden, so das Unternehmen.

Deutschland hat unterdessen erklärt, dass es die Aufnahme von fossilem Gas und Kernenergie in die Taxonomie ablehnen wird. Allerdings hatte sich die SPD zuvor für die Einbeziehung von Erdgas eingesetzt, wobei ihr nachgesagt wurde, die Inklusion von Atomkraft in Kauf zu nehmen.

VKU-Hauptgeschäftsführer Ingbert Liebing: „Das Ergebnis der heutigen Abstimmung zeigt auf, dass sowohl die von der Kommission vorgeschlagenen Kriterien als auch die Bedeutung von Erdgas als Brücke hin zur Erreichung der Klimaziele missverstanden werden. Sollte sich diese Linie durchsetzen, schwächt das den Ausbau der erneuerbaren Energien und gefährdet die Klimaziele. Denn vor dem aktuellen geopolitischen Hintergrund ist es wichtiger denn je, unser Energiesystem durch erneuerbare Energien und grünen Wasserstoff unabhängiger von fossilen Importen zu machen. Weil klimaneutrale Alternativen derzeit fehlen, ist es notwendig, neue erdgasbetriebene, aber so schnell wie möglich auf Wasserstoff umrüstbare Kraftwerke zu bauen. Sie sind das einzige Vehikel, das Versorgungssicherheit und den massiven Ausbau der erneuerbaren Energien verbindet, indem sie das wind- und sonnenabhängige Angebot der Erneuerbaren ausgleichen. Die vorgeschlagenen Nachhaltigkeitskriterien sind aus kommunalwirtschaftlicher Sicht sehr restriktiv. Insbesondere die Emissionsgrenzwerte sowie die Kapazitätsgrenzen für neue Kraftwerke sind keineswegs ein Freifahrtschein für Erdgas. Dennoch ist der ergänzende delegierte Rechtsakt unverzichtbar für die schnelle und erfolgreiche Reduzierung von CO2-Emissionen. Eine Ablehnung des delegierten Rechtsakts durch das Europäische Parlament bei der Abstimmung im Juli wäre ein sehr problematisches Signal für die Energie- und für die Finanzwirtschaft. Sollte es im Plenum zu einer Ablehnung des delegieren Rechtsakts kommen, muss die Bundesregierung auf nationaler Ebene handeln und mit einer bedarfsgerechten Förderung und einem geeigneten Marktdesign sehr zügig für die richtigen Rahmenbedingungen sorgen. Ohne diese Unterstützung wird ein wirtschaftlicher Betrieb neuer Kraftwerke und KWK-Anlagen nicht möglich sein. Dabei brauchen wir gerade diese Kraftwerke für Versorgungssicherheit und den schnellen Ausbau der erneuerbaren Energien. Andernfalls verlieren wir noch mehr der ohnehin knapp bemessenen Zeit, um die Klimaziele zu erreichen.

BUND: Klares Signal der EU-Fachausschüsse: Atom und Gas nicht nachhaltig – Scheitern des Kommissionsvorschlags zur Taxonomie Anfang Juli wahrscheinlich

Zum fraktionsübergreifenden Mehrheitsvotum des EU-Wirtschafts- und Umweltausschuss gegen den Vorschlag der EU-Kommission, Atomkraft und fossiles Gas im Rahmen der EU-Taxonomie als nachhaltige Investitionen zu klassifizieren, äußert sich Olaf Bandt, Vorsitzender des Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND): „Das Votum der Fachausschüsse ist richtungsweisend. Es kann als deutliches Signal an das EU-Parlament verstanden werden, das Anfang Juli endgültig über die Kommissionsentscheidung zu Atom und Gas abstimmen wird. Der Vorschlag der EU-Kommission, Atomkraft und fossiles Gas als nachhaltig einzustufen, ist grotesk. Das Ganze lässt sich nur durch den Druck Deutschlands und Frankreichs erklären, die die Interessen der Erdgas- und Atomlobby durchsetzen wollten. Die neue Bundesregierung hat sich mittlerweile selbst von dem Kuhhandel mit Frankreich distanziert. Es ist ein gutes Zeichen, dass die Fachausschüsse sich nicht haben beirren lassen. Mit ihrem Votum gegen Atom und Gas haben sie das wissenschaftsbasierte Fundament der Taxonomie verteidigt. Jetzt hängt alles an der Entscheidung des EU-Parlaments Anfang Juli. Die Parlamentarier*innen sollten genau prüfen, ob sie dem rein politisch motivierten Vorschlag der EU-Kommission nachgeben und dafür das Scheitern einer wissenschaftlichen Taxonomie für nachhaltige Investitionen in Kauf nehmen wollen. Stattdessen sollten sie mit ihrem Mandat die Weichen für einen klimagerechten Umbau des europäischen Energiesystems stellen. Die Menschen in der EU werden diese Abstimmung genau beobachten, denn hier geht es um nicht weniger als die Zukunftsfähigkeit Europas und die Glaubwürdigkeit des EU-Parlaments.“

DUH: Etappensieg für nachhaltige Investitionen: Umwelt- und Wirtschaftsausschüsse des EU-Parlaments stimmen gegen Greenwashing von Erdgas und Atomkraft

Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) bewertet die Abstimmung als wichtigen Etappensieg gegen das Greenwashing dieser umweltschädlichen Technologien. In einem neuen Rechtsgutachten macht die DUH zudem deutlich, dass die Einstufung von Atomkraft und fossilem Gas als nachhaltige Investitionen ohnehin gegen die EU-Taxonomieverordnung verstößt. Anfang Juli entscheidet das EU-Parlament in einer Plenarabstimmung endgültig darüber, ob dem Vorschlag der EU-Kommission stattgegeben wird. DUH-Bundesgeschäftsführer Sascha Müller-Kraenner: „Die Ausschussmitglieder haben erkannt, dass die EU-Taxonomie nicht zu einem Feigenblatt für Atomkraft und fossiles Gas verkommen darf. Nachhaltige Investments müssen als solche erkennbar sein, sonst verliert das Finanzlabel jegliche Glaubwürdigkeit. Die Öffnung der Taxonomie für fossiles Gas und Atomkraft ist angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine besonders verantwortungslos, denn sie zementiert die Abhängigkeit Europas von Energieimporten und macht unsere Energieversorgung unsicherer statt unabhängiger. Wie unser Rechtsgutachten nachweist, ist der Vorschlag der EU-Kommission auch gar nicht mit der EU-Taxonomieverordnung vereinbar. Nun muss das gesamte EU-Parlament nachziehen und das geplante Greenwashing verhindern. Wir fordern daher die EU-Abgeordneten auf, den Vorstoß der EU-Kommission klar abzulehnen. Anstatt die Klimakrise mit neuen Gaskraftwerken noch weiter zu befeuern, müssen wir jetzt mit aller Kraft in Erneuerbare Energien investieren.“

Kommentar: Parlament zeigt EU-Taxonomie die Zähne

von Nikolaus J. Kurmayer auf EURACTIV.de

Der Streit über die Regeln der Europäischen Union für nachhaltige Finanzen, oft vereinfacht als „EU-Taxonomie“ bezeichnet, war, um es ganz offen zu sagen, ein heilloses Durcheinander. Dennoch könnte er einen unerwarteten Segen bringen, denn das Europäische Parlament kann in diesem Prozess Zähne zeigen. Der Streit um die EU-Taxonomie hat zwar einige der größten Schwachstellen der Union offengelegt, wie z.B. die Tatsache, dass technokratische Gremien einen umstrittenen Änderungsantrag in der Silvesternacht um 23:50 Uhr in den Posteingang einschleusten – aber das Europäische Parlament könnte daraus gestärkt hervorgehen.

EU-Gesetze gibt es bekanntlich in vielen Formen und Größen, wobei die Kommission in den letzten Jahren eine Vorliebe für delegierte Rechtsakte und Durchführungsrechtsakte entwickelt hat, in denen sie darum bittet, ermächtigt zu werden, damit sie im Alleingang Teile von Gesetzen ändern kann, die als technisch gelten. Ein Beispiel für eine solche Ermächtigung war die Debatte darüber, ob Kernkraft und Gas in der EU-Taxonomie für nachhaltige Finanzen überhaupt als nachhaltig angesehen werden. Als jedoch die jahrelange Lobbyarbeit von Paris für die Einbeziehung der Kernenergie und von Berlin, zusammen mit Osteuropa, für die Einbeziehung von Gas Früchte trug, war das Ergebnis alles andere als technisch. Paris versucht verzweifelt, eine „nachhaltige Finanzierung“ für seine marode Atomflotte zu sichern, während Berlin sich weiterhin stark auf fossiles Gas stützt, um seine schwächelnde Energiewende zu vollenden.

Angesichts des immensen Drucks aus Berlin, Paris und Osteuropa hatte die Kommission kaum eine andere Wahl. Sie knickte ein und schmuggelte die Regeln für Atom- und Gasanlagen in beschämender Weise in die Postfächer, während die Leute feierten. Sie wusste nur zu gut, dass solche Prozesse, wenn sie einmal in Gang gekommen sind, nur schwer zu stoppen sind. Um einen delegierten Rechtsakt wie die Taxonomie zu kippen, ist eine umgekehrte Mehrheit von 20 EU-Staaten im Rat erforderlich, was bei allen anderen als den umstrittensten Themen als nahezu unmöglich gilt. So wurde es schließlich auch konzipiert.

Doch die Europäische Kommission, der einige Gesetzgeber nachsagen, dass sie ihr Handwerk gut beherrscht, sieht sich nun mit dem ultimativen Wächter der delegierten Rechtsakte konfrontiert: dem Europäischen Parlament. Es kann nachträgliche Änderungen durch delegierte Rechtsakte mit einer einfachen Mehrheit von 353 Stimmen kippen, was die Beamten der Kommission wahrscheinlich nachts wach hält.

Die Abstimmung ist ein deutliches Signal an die Kommission, dass sie bei der Ausarbeitung von delegierten Rechtsakten und ähnlichem nicht mehr nach eigenem Gutdünken verfahren kann, ohne das Parlament einzubeziehen, da die Abgeordneten sonst etwas zu Fall bringen könnten – was die EU-Staaten nicht könnten. Sollte es dem Parlament gelingen, sie im Plenum zu Fall zu bringen, wird die EU-Exekutive keine andere Wahl haben, als das einzige demokratisch gewählte Gremium der EU ernster zu nehmen.

So oder so haben die Abgeordneten bereits angekündigt, dass sie die Europäische Kommission wegen Überschreitung der Kompetenzen verklagen wollen, egal wie das Ergebnis ausfällt. Österreich und Luxemburg haben ebenfalls angekündigt, dass sie klagen wollen. Wenn das Europäische Parlament, die erste Angriffs- (oder Verteidigungs-, je nachdem, wie man es sieht) Linie, scheitert, könnte der Europäische Gerichtshof am Ende die Niederlage der Abgeordneten wettmachen.

->Quellen und Links: