IEA: Atomkraft (doch) Weg zu emissionsarmem Energiesystem?

Neuer Sonderbericht der Internationalen Energieagentur – schon vor 5 Jahren im Fokus der Kritik

Angesichts steigender Brennstoffpreise und zunehmenender Bedenken in Bezug auf die Energiesicherheit wächst in vielen Ländern die Dynamik für die Kernenergie, „doch der Erfolg hängt von den Regierungen und der Industrie ab“, so ein neuer Sonderbericht der IEA vom 30.06.2022. Während die Welt mit einer globalen Energiekrise zu kämpfen habe, besitze die Kernenergie das Potenzial, eine bedeutende Rolle dabei zu spielen, den Ländern einen sicheren Übergang zu Energiesystemen zu ermöglichen, die von erneuerbaren Energien dominiert würden.

Nuclear Power and Secure Energy Transitions – Titel © iea.org

„In Ländern, die sich dafür entscheiden, die Nutzung der Kernenergie fortzusetzen oder zu verstärken, kann sie die Abhängigkeit von importierten fossilen Brennstoffen verringern, die Kohlendioxidemissionen senken und es den Elektrizitätssystemen ermöglichen, einen höheren Anteil an Sonnen- und Windenergie zu integrieren. Der Aufbau nachhaltiger und sauberer Energiesysteme wird ohne Kernenergie schwieriger, riskanter und teurer sein“, so der neue Bericht Nuclear power and secure energy transitions: Von den Herausforderungen von heute zu den sauberen Energiesystemen von morgen.

Die Kernenergie sei heute mit Atomkraftwerken in 32 Ländern nach der Wasserkraft die zweitgrößte Quelle emissionsarmer Energie. In insgesamt 19 Ländern sind derzeit Kernreaktoren im Bau. Etwa 63 % der heutigen Kapazität stammt aus Anlagen, die mehr als 30 Jahre alt sind, da viele von ihnen im Gefolge der Ölschocks 70er Jahre gebaut worden seien. Aber eine Reihe von fortgeschrittenen und aufstrebenden Volkswirtschaften hätten in letzter Zeit Energiestrategien angekündigt, in denen die Atomenergie eine wichtige Rolle spielt und die erhebliche finanzielle Anreize für Investitionen in diese Technologie böten.

„Vor dem Hintergrund der globalen Energiekrise, der in die Höhe schießenden Preise für fossile Brennstoffe, der Herausforderungen im Bereich der Energiesicherheit und der ehrgeizigen Klimaschutzverpflichtungen hat die Kernenergie meines Erachtens die einmalige Chance, ein Comeback zu feiern“, sagte IEA-Exekutivdirektor Fatih Birol. „Eine neue Ära für die Kernenergie ist jedoch keineswegs garantiert. Sie wird davon abhängen, dass die Regierungen eine solide Politik betreiben, um den sicheren und nachhaltigen Betrieb von Kernkraftwerken für die kommenden Jahre zu gewährleisten – und um die notwendigen Investitionen, auch in neue Technologien, zu mobilisieren. Und die Atomindustrie muss sich rasch mit den Problemen der Kostenüberschreitungen und Projektverzögerungen auseinandersetzen, die den Bau neuer Kraftwerke in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften beeinträchtigt haben. Infolgedessen haben die fortgeschrittenen Volkswirtschaften ihre Marktführerschaft verloren, da 27 der 31 Reaktoren, deren Bau seit 2017 begonnen hat, russische oder chinesische Konstruktionen sind.“ Frage: Was bedeutet „nachhaltiger Betrieb“ von Atomkraftwerken?

Auf dem globalen Weg der IEA zum Erreichen von Netto-Null-Emissionen bis 2050 verdoppelt sich die Kernenergie zwischen 2020 und 2050, wobei der Bau neuer Anlagen in allen Ländern erforderlich ist, die für diese Technologie offen sind. Dennoch wird die Atomenergie Mitte des Jahrhunderts nur 8 % des weltweiten Strommixes ausmachen, der von erneuerbaren Energien dominiert wird.

AKW-Laufzeitverlängerung führt zu mit Wind und Solar wettberwerbsfähigen Kosten

Trotz der Bemühungen, die Laufzeiten einiger bestehender Kraftwerke zu verlängern, könnte die in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften betriebene Kernkraftwerksflotte ohne weitere Anstrengungen bis 2030 um ein Drittel schrumpfen. Die Verlängerung der Laufzeiten von Kernkraftwerken erfordere zwar erhebliche Investitionen, führe aber im Allgemeinen zu Stromkosten, die in den meisten Regionen mit denen von Wind- und Solarkraftwerken wettbewerbsfähig seien.

Eine solide Politik sei erforderlich, um die Nutzung der Kernenergie zu fördern und ihre Sicherheit zu verbessern, aber die Industrie müsse auch bessere Arbeit leisten, um Projekte unter den Kosten und im Rahmen des Budgets zu realisieren, um zu gewährleisten, dass nuklear erzeugter Strom wettbewerbsfähig sei, so der Bericht. Staatliche Finanzierungen würden weiterhin notwendig sein, um neue Investitionen zu mobilisieren, nicht nur für Anlagen, sondern auch für die Entwicklung der neuesten Technologien. Der Grund dafür sei, dass es im privaten Sektor nur selten genügend Finanzmittel für derart kapitalintensive und langlebige Anlagen gebe, insbesondere für solche, die einem erheblichen politischen Risiko ausgesetzt seien.

Keine Empfehlungen an Länder, die sich gegen  Nutzung der Atomenergie entscheiden

Die Kernenergie habe in jüngster Zeit einen Aufschwung erlebt, der durch den jüngsten Anstieg der Öl-, Gas- und Strompreise noch verstärkt werden dürfte. Gleichzeitig stoße die Kernenergie in einigen Ländern auf öffentlichen und politischen Widerstand, und die IEA spricht keine Empfehlungen an Länder aus, die sich gegen die Nutzung der Kernenergie in ihrem Energiemix entscheiden.

„Auf dem IEA-Pfad ‚Netto-Null bis 2050‘ stammt die Hälfte der Emissionsreduzierungen bis Mitte des Jahrhunderts von Technologien, die noch nicht kommerziell nutzbar sind. Dazu gehören kleine modulare Reaktoren (SMR), die im Allgemeinen als fortschrittliche Kernreaktoren mit einer Kapazität von weniger als 300 Megawatt – oder etwa einem Drittel einer herkömmlichen Anlage – definiert werden. Die niedrigeren Kosten, die geringere Größe und die geringeren Projektrisiken von SMR können die gesellschaftliche Akzeptanz verbessern und private Investitionen anziehen. In Kanada, Frankreich, dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten wächst die Unterstützung und das Interesse an dieser vielversprechenden Technologie.“

Kernenergieanlagen könnten auch die Standorte stillgelegter Kraftwerke für fossile Brennstoffe wiederverwenden und dabei die vorhandenen Übertragungs- und Kühlwasserkapazitäten sowie qualifizierte Arbeitskräfte nutzen. Die erfolgreiche langfristige Einführung der Kernenergie hänge jedoch von einer starken Unterstützung durch die politischen Entscheidungsträger ab, nicht nur um Investitionen zu mobilisieren, sondern auch um die rechtlichen Rahmenbedingungen zu straffen und zu harmonisieren.

Schon vor 5 Jahren: Scharfe Kritik am IEA-WEO – „Thema Solarenergie – elf Jahre Ignoranz auf einen Blick“

Das manager magazin warf der IEA am 17.11.2017 vor, sie habe „in einer Disziplin komplett versagt“. Denn sie habe sich beharrlich geweigert, „den seit vielen Jahren politisch angestoßenen und schließlich auch tatsächlich erfolgenden Vormarsch der Solarenergie wahrzunehmen“ (siehe solarify.eu/indien-rueckt-an-die-spitze/6). Unbeeindruckt von ständig hohen Wachstumsraten habe die IEA Jahr um Jahr extrem konservative Ausblicke gefertigt – entgegen den Trends, dass erste Regierungen wie die deutsche  bereits früh auf  Solarenergie setzten und die Preise rasant sanken. Habe der WEO in den Jahren nach der Jahrtausendwende „immerhin noch einen gewissen Aufwärtstrend“ gesehen, hätten die Autoren später prophezeit, der jährliche Zubau werde gar schrumpfen. Etwa 2014: Nach 37 GW Zubau 2013 erwartete der WEO bis 2025 eine Abnahme auf durchschnittlich 28 GW pro Jahr. Tatsächlich „rechnen Branchenkenner für das laufende Jahr (2017) mit einem erneuten Rekordjahr für die Solarenergie. Der Zubau soll demnach schon 100 GW betragen. Keine andere Form der Stromerzeugung wächst inzwischen so schnell wie die Solarenergie – auch in absoluten Zahlen“. Nicht so der Energie-Ausblick der IEA: Dort erwartet sie in ihrem mittleren Szenario erneut ein Absinken des Ausbaus sogar unter das Niveau von 2016 (77 GW). Immerhin sei inzwischen ein besonders aggressives Szenario hinzugefügt worden, „nachdem der Ausbau bis 2040 langsam auf 140 GW jährlich zulegen und die Photovoltaik dann einen Anteil von 15 Prozent an der weltweiten Stromerzeugung erreichen könnte (derzeit ein Prozent). „Ausführlich mit der schwer zu erklärenden Ignoranz der IEA hat sich der Wissenschaftler Auke Hoekstra von der Technischen Universität Eindhoven in mehreren Blogposts beschäftigt. Als einen möglichen Grund macht er eine strukturelle Unfähigkeit oder gar Angst der IEA aus, exponentielle Fortschritte neuer, billiger werdender Technologien abzubilden. Vor allem aber haben die Experten den Preisverfall der Photovoltaik schlicht unterschätzt mitsamt den daraus resultierenden neuen Einsatzmöglichkeiten auch in Schwellenländern wie China oder Indien.“ Wer oder was wirklich hinter den WEO-Pannen-Prognosen stecke, sei aber nicht herauszubekommen – denn die IEA lege ihre Rechenmodelle nicht offen.

Und das pv magazine legten Sandra Enkhardt und Becky Beetz ein Jahr später nach („IEA versus Solar-PV-Realität“): „In ihrem kürzlich veröffentlichten World Energy Outlook 2018 prognostiziert die Internationale Energieagentur (IEA) einen stetigen Rückgang des weltweiten Ausbaus der Photovoltaik bis 2035. Als Reaktion darauf hat der niederländische Forscher Auke Hoekstra seine Grafik „IEA versus Realität in der Solar-PV“ aktualisiert. Selbst in ihrem „Low-Ball-Szenario“ geht die IEA davon aus, dass die installierte PV-Kapazität bis 2040 die aller anderen Energieformen außer Gas überholen wird. Wenn man die prognostizierte anhaltende Dominanz von Öl, Kohle und Gas außer Acht lässt, sind das gute Nachrichten. Zumindest solange, bis man sich das Basisszenario – das „New Policy Scenario“ – ansieht, in dem die Agentur vorhersagt, dass die PV-Nachfrage bis 2035 stetig zurückgehen wird und bis dahin jährlich nur 90 GW an neuer Kapazität installiert werden. Zumindest wird erwartet, dass die Nachfrage nach diesem Zeitpunkt wieder ansteigt.“

Die IEA hat das Wachstum der Solarenergie und der erneuerbaren Energien sträflicherweise immer wieder niedrig angesetzt. Das veranlasste Auke Hoekstra, Senior Advisor im Bereich Elektromobilität an der Technischen Universität Eindhoven, im Januar (erneut) dazu, die Agentur dafür zu rügen, dass sie Jahr für Jahr falsche Prognosen für die Solarenergie abgibt. Nach der Veröffentlichung des jüngsten Berichts hat Hoekstra nun seine Grafik „IEA versus reality in solar PV“ aktualisiert, die deutlich zeigt, dass die IEA immer noch nicht versteht (oder sich weigert zu sehen), wie der globale PV-Markt funktioniert. Er fragt: „Lernen diese Leute jemals dazu?“ Für die IEA scheint ein exponentielles PV-Wachstum, wie es die Branche in den letzten Jahren erlebt hat, unmöglich zu sein. Vielleicht wird sie es im nächsten Jahr endlich begreifen, auch wenn nicht viele daran glauben, dass die Agentur ihre Szenarien grundlegend ändern und von konventionellen Brennstoffen abrücken wird. Das heißt, wir können uns schon jetzt auf die Grafik von Hoekstra für das nächste Jahr freuen“.

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