Mythen der Atomkraft Teil l
Über die Gewinnung von Energie durch Kernspaltung kursieren heute noch immer zahlreiche Gerüchte, Halb- und Unwahrheiten. Auch in der aktuellen Debatte. Deshalb räumt die Agentur für Erneuerbare Energien mit den 10 geläufigsten Mythen der Atomkraft auf. Solarify dokumentiert den ersten Teil (Teil 2 folgt).
Mythos #1: Schützt Atomkraft unser Klima?
Nein. Fakt ist: Atomkraft kann schon deshalb nicht zum Klimaschutz beitragen, weil sie kein großes und schnell zu erschließendes Ausbaupotenzial hat.
Weltweit liefern aktuell etwa 415-440 Atomkraftwerke in 33 Ländern rund 10 Prozent der Stromerzeugung. Die Gesamtzahl der in Betrieb befindlichen AKW ist trotz einiger Neubauten in den letzten zwanzig Jahren stabil geblieben. Ihr Anteil an der globalen Stromerzeugung ist gleichzeitig von 17 auf 10 Prozent gesunken.
Dabei macht die Atomkraft nur zwei Prozent am weltweiten Endenergieverbrauch aus, denn der größte Teil des Energiebedarfs entfällt nicht auf Stromanwendungen, sondern auf Verkehr und Wärmeversorgung. Hier kommen bisher vor allem die fossilen Energieträger Öl und Gas zum Einsatz. Das enorme Wachstum des Energieverbrauchs ist dafür verantwortlich, dass der energiebedingte CO2-Ausstoß der Welt in zwanzig Jahren von rund 24 auf 32 Milliarden Tonnen in die Höhe geschnellt ist.
Wollte man mithilfe der Atomenergie einen effektiven Klimaschutzbeitrag leisten, müsste die Atomkraft weltweit massiv und sehr schnell ausgebaut werden. Das geht jedoch gar nicht. Es wäre extrem teuer, unsicher und langwierig. Die Planungs- und Bauzeiten eines Atomkraftwerks sind sehr lang. So waren die sich im Juli 2021 weltweit in Bau befindlichen 53 Reaktoren im Schnitt bereits sieben Jahre im Bau. Die Inbetriebnahmen sind unklar, teilweise in weiter Ferne, bei der Mehrheit gibt es große Verzögerungen. Zwischen Baubeginn und Netzanschluss der von 2011 bis 2020 in Betrieb genommenen Anlagen vergingen im Schnitt zehn Jahre.
Die meisten AKW-Neubauten entfallen auf China und Indien, in Zentral- und Westeuropa sind die prominentesten Beispiele für Neubauten Olkiluoto in Finnland, Flamanville in Frankreich und Hinkley Point C in Großbritannien. Alle drei zeichnen sich durch massive Verzögerungen und Kostensteigerungen aus. Der Bau von Olkiluoto begann im Jahr 2005, die Inbetriebnahme verzögert sich bis heute weiter und ist momentan für September 2022 angekündigt. Ähnlich in Flamanville: Baubeginn war hier 2007, im Januar 2022 verkündete der französische Energiekonzern EDF eine weitere Verzögerung der Inbetriebnahme auf Mitte 2023 bei gleichzeitiger Kostensteigerung auf 12,7 Milliarden Euro. Ursprünglich sollte der Neubau 2012 ans Netz gehen und “nur” 3,4 Milliarden Euro kosten, inzwischen rechnet der französische Rechnungshof mit 19 Milliarden Euro.
Wir brauchen jedoch sofort wirksamen Klimaschutz! Die Atomenergie kann in den für die Bekämpfung der Klimakrise entscheidenden nächsten 10 bis 20 Jahren keine bedeutende Rolle spielen und erst recht nicht für die kurzfristige Erhöhung der Versorgungssicherheit und stärkere Unabhängigkeit von Energieimporten mit Blick auf den Russland-Ukraine-Krieg. Abgesehen davon, dass Europas einzige verbliebene Uranabbaustätten ausgerechnet in Kasachstan, Russland und der Ukraine liegen, ist Uran auch eine endliche Ressource und kann nicht unbegrenzt ausgebeutet werden.
Die Lösung kann daher nur im schnelleren Ausbau der Erneuerbaren Energien liegen, sowohl in Deutschland als auch weltweit. Im Jahr 2020 lag der Anteil der Erneuerbaren Energien an der neu installierten Leistung zur Stromerzeugung global bereits bei 83 Prozent und ihr Beitrag zur weltweiten Stromerzeugung lag bei 29 Prozent. Die Entwicklung geht in die richtige Richtung, muss jedoch noch stärker vorangetrieben und es muss eine wirksame Bremse für den weltweiten Energiebedarf gefunden werden.
Mythos #2: Können wir mit Atomkraft CO2 einsparen und die Umwelt schützen?
Nein. Fakt ist: Atomkraft ist durch die Prozesse vor und nach dem Kraftwerk weder klimaneutral noch umweltfreundlich.
Zwar verursacht der Prozess der Stromerzeugung in einem Atomkraftwerk keinen direkten CO2-Ausstoß, die vor- und nachgelagerten Prozesse jedoch sehr wohl. Die Emissionen entstehen beim Uranabbau, dessen Transport, der weiteren Verarbeitung zu Brennelementen, dem Kraftwerksbau und -rückbau bis hin zur Lagerung der radioaktiven Abfälle. Da es weltweit noch keine Erfahrungen mit funktionierenden Endlagern gibt, sind besonders die hiermit verbundenen Umweltbelastungen schwer abzuschätzen. Entsprechend groß fallen die Bandbreiten bei Angaben zum CO2-Ausstoß der Atomenergie aus. So rechnete der Weltklimarat ??IPCC in seinem Bericht von 2014 mit 3,7 bis 110 Gramm CO2-Äquivalenten pro Kilowattstunde. Im Vergleich zu fossilen Energieträgern, die bei der Stromerzeugung einen Treibhausgasausstoß im Umfang von etwa 430-490 g CO2-Äqu./kWh (Erdgas) oder 1.050-1.140 g CO2– Äqu./kWh (Braunkohle) aufweisen, ist die Atomkraft damit sehr klimafreundlich. Die Erneuerbaren Energien können da jedoch locker mithalten und das ohne die Probleme und Risiken der Atomenergie. Einer aktuellen Studie zufolge liegen die Emissionsfaktoren für Photovoltaikanlagen je nach Technologie und Standort bei etwa 20 bis maximal 60 Gramm CO2-Äquivalenten pro Kilowattstunde, bei Windenergieanlagen sind es lediglich 7 bis 11 Gramm CO2-Äquivalente pro Kilowattstunde.
Abgesehen von Treibhausgasen entstehen bei der Uranförderung, -verarbeitung und -wiederaufarbeitung radioaktive Abfälle, die sicher entsorgt werden müssen. Weltweit gibt es etwa 380.000 Tonnen hochradioaktiven Abfall, wobei hier die Halden der Uranminen nicht berücksichtigt sind. Allein für Deutschland rechnet die Bundesgesellschaft für Endlagerung mit rund 300.000 Kubikmetern schwach- und mittelradioaktiven sowie 10.500 Kubikmetern hochradioaktiven Abfällen, die dauerhaft sicher gelagert werden müssen.
Schon der Uranabbau ist eine äußerst schmutzige Angelegenheit. Um sieben Kilogramm spaltbares Uran zu gewinnen, müssen ca. 1.000 Tonnen Uranerz abgebaut werden. In Deutschland hat man insbesondere in Sachsen und Thüringen mit dem DDR-Bergbau Wismut leidige Erfahrungen gemacht, da dabei viele Bergleute an Lungenkrebs erkrankten. Die Sanierung kostete bislang 6,9 Milliarden Euro, natürlich bezahlt aus Steuermitteln und nicht mit der Stromrechnung. Nicht umsonst sind die europäischen Uranbergwerke mit Ausnahme von Kasachstan, Russland und der Ukraine inzwischen alle stillgelegt. Die Uranförderung fand und findet vorwiegend auf dem Gebiet indigener Völker, in Afrika und Ländern mit autoritären Strukturen statt.
Wie auch in Kohlekraftwerken sind in Atomkraftwerken große Mengen an Wasser zur Kühlung notwendig. Deshalb wurden AKW gerne an großen Flüssen wie Isar und Elbe gebaut. Bei hohen sommerlichen Temperaturen muss der Betrieb jedoch gedrosselt werden, da sich die Flüsse sonst zu stark erwärmen und dadurch Tier- und Pflanzenwelt Schaden nehmen. Entsprechende Wetterlagen hat es in Deutschland und der Schweiz zum Beispiel im Sommer 2018 gegeben. Frankreich leidet aktuell im Juni 2022 unter ungewöhnlich früher Sommerhitze und muss die Atomkraft drosseln.
Mythos #3: Dient Atomkraft der Versorgungssicherheit?
Nein. Fakt ist: Atomkraftwerke sind zu störanfällig und unflexibel, um zur Versorgungssicherheit in einem erneuerbaren Energiesystem beizutragen.
Im schlimmsten Fall bedeuten Atomkraftwerke ein tödliches Sicherheitsrisiko, wie Tschernobyl und Fukushima bewiesen haben. Davon abgesehen, ist aber auch ihr Beitrag zur Energieversorgungssicherheit nicht so groß und zuverlässig, wie manch einer es gerne hätte. Diese Erfahrung muss gerade die europäische Atomnation Frankreich wiederholt machen. Ein Beispiel war die winterliche Kältewelle im Februar 2012, in der das französische Energiesystem mit seinen vielen Stromheizungen und seinem hohen Atomkraftanteil an seine Grenzen kam, während Deutschland in der Lage war, die europäische Energieversorgung durch Energielieferungen nach Frankreich und in die Schweiz zu stützen. Auch Anfang 2017 gingen in Frankreich nur deswegen nicht die Lichter aus, weil Spanien und Deutschland aushalfen, den hohen Strombedarf während einer Kältewelle bei gleichzeitigem Stillstand mehrerer AKW zu decken. Die jüngste Serie von Meldungen über die mangelnde Zuverlässigkeit der alternden Atomkraftwerke in Frankreich gibt es seit Ende 2021. Zeitweise standen 17 von 56 Atomkraftwerken gleichzeitig still. Ein Grund dafür war, dass einige AKW aufgrund akuter Sicherheitsmängel außerplanmäßig abgeschaltet werden mussten. Der französische Kernphysiker Bernard Laponche, der die Atomkraft in Frankreich seinerzeit mit aufbaute und über viele Jahre die französische Regierung in Energiefragen beriet, warnt heute vor der Nutzung der Atomkraft und vor allem vor weiteren Laufzeitverlängerungen bestehender Kraftwerke. Er habe verstanden, dass ”die Atomkraft keineswegs eine saubere und sichere Energiequelle ist”, stattdessen müsse man auf Energiesparen und Erneuerbare Energien setzen.
Ein anderer Aspekt ist die Frage, inwieweit Atomkraftwerke eine gute Ergänzung zu den Erneuerbaren Energien darstellen. Sind sie geeignet, die schwankende Verfügbarkeit von Wind und Sonne auszugleichen? Eigentlich sind AKW auf einen kontinuierlichen Betrieb in der Grundlast ausgelegt, aber können sie auch flexibel betrieben werden? Mit diesem Thema, im Fachjargon als “Lastfolgefähigkeit” bezeichnet, hat sich das Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) intensiv auseinandergesetzt. Hintergrund waren die im Jahr 2010 beschlossenen (und nur wenige Monate später wieder kassierten) Laufzeitverlängerungen deutscher Atomkraftwerke. Die Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass der sogenannte Lastfolgebetrieb von AKW sowohl sicherheitstechnische als auch ökonomische Auswirkungen hat. Zwar lassen sich AKW in einem begrenzten Bereich nahe ihrer Nennleistung flexibel regulieren, im praktischen Betrieb wird jedoch ein Unterschreiten von 50 bis 60 Prozent der Nennleistung vermieden. Jeder Lastzyklus belastet das Material durch Temperatur- und Druckwechsel in Kühlkreisläufen oder häufige Betätigung von Steuereinrichtungen. Bei häufiger Wiederholung kommt es zu Ermüdungserscheinungen. Außerdem sind AKW sehr kapitalintensiv, schon aus wirtschaftlichen Gründen müssen sie daher viele Volllaststunden laufen. Nicht nur das TAB, sondern auch aktuelle Studien kommen daher zu der Einschätzung, dass AKW mit hohen Anteilen Erneuerbarer Energien nicht zusammenpassen. Atomkraftwerke sind schlicht nicht flexibel genug zu betreiben, um eine gute Ergänzung zu den Erneuerbaren Energien darzustellen. Entsprechend wären bei weiteren Laufzeitverlängerungen hohe Abregelungen der Erneuerbaren Energien zu erwarten, wie auch Carolin Dähling von Green Planet Energy es ist unserem Video-Interview darstellt.
Mythos #4: Kann uns Atomkraft energieunabhängig machen?
Nein. Fakt ist: Atomkraft macht uns von Uran-Importen aus autoritären Staaten abhängig.
Nicht zuletzt der Krieg in der Ukraine hat den Begriff “Energie-Autarkie” wieder in die politische Diskussion eingebracht. Wie viele europäische Staaten versucht auch Deutschland, seine Abhängigkeit von russischen Gas- und Ölimporten zu verringern. Dabei jedoch auf Atomenergie zurückzugreifen und die Laufzeiten der deutschen AKW zu verlängern, wie es manche Aktivisten oder vereinzelte Stimmen in der Politik als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg fordern, entpuppt sich bei genauerem Hinschauen als Irrweg.
1991 schloss das letzte Uranbergwerk in Deutschland, 2017 endete der Uranbergbau in Tschechien und 2021 in Rumänien. Heute gibt es keinen EU-Mitgliedstaat mehr, der noch Uran fördert. Sämtliche atomaren Brennstoffe müssen aus Nicht-EU-Staaten importiert werden. Laut dem Uranatlas 2022 stammt davon der Großteil aus instabilen oder autoritär geführten Ländern. Einer der größten Uran-Lieferanten der Europäischen Union ist ausgerechnet Russland, bzw. der russische Staatskonzern Rosatom, der weltweit an diversen Uranminen beteiligt ist. Im Jahr 2020 bezog die EU insgesamt 20,2 Prozent des für die Kernspaltung benötigten Urans aus Russland, aus dem benachbarten Kasachstan stammten weitere 19,1 Prozent.
Somit ist Uran kein heimischer Energieträger, der uns von anderen Staaten energieunabhängig macht. Im Gegenteil: Er verstärkt besonders die Abhängigkeit von Autokratien, wie z.B. Russland. Nur die Erneuerbaren Energien legen die Grundlage für eine saubere und dauerhaft sichere Energieversorgung.
Mythos #5: Liefert uns Atomkraft billigen Strom?
Nein. Fakt ist: Die Energieerzeugung durch Kernspaltung ist sehr teuer und von Subventionen abhängig.
Der Mythos vom billigen Atom-Strom hält sich hartnäckig. Angesichts der steigenden Energiepreise fordern manche Akteure eine Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken oder sogar den Neubau. Tatsache ist jedoch, dass Atomkraft die teuerste Form der Energiegewinnung ist. Weil sie so teuer ist, erfordert sie in hohem Maße staatliche Subventionen. Allein in Deutschland ist die Technologie seit den 1950er Jahren durch den Staat mit insgesamt 210 Milliarden Euro (nominal) bzw. 287 Milliarden Euro (real in Preisen von 2019) gefördert worden. Dies entspricht laut einer Studie des Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft (FÖS) einem Betrag von ca. 37 Euro pro Jahr pro Person in Deutschland.
Auch nach dem Atomausstieg in Deutschland Ende 2022 werden in Zukunft noch staatliche Kosten anfallen. Dazu gehören zum Beispiel die Kosten für die Erkundung eines Endlagers, der deutsche Anteil für die Europäische Atomgemeinschaft EURATOM und die internationalen Organisationen IAEO (Atomenergiebehörde) und CERN (Europäische Organisation für Kernforschung in Genf). Zwar sollen die Kosten für Zwischen- und Endlagerung in Deutschland durch einen öffentlich-rechtlichen Atomfonds abgedeckt sein, in den die AKW-Betreiber im Jahr 2017 einmalig 24,1 Milliarden Euro eingezahlt haben. Ob das ausreicht, wird jedoch erst die Zukunft zeigen. Stilllegung und Rückbau bleibt Aufgabe der AKW-Betreiber, im Fall der ehemaligen DDR-AKW sowie der Wismut-Sanierung ist allerdings wieder der Staat zuständig.
Dazu kommt der Aspekt, dass Atomstrom nicht versicherbar ist. Eine anlässlich der des Reaktorunglücks von Fukushima im Jahr 2011 erstellte Studie im Auftrag des Bundesverbands Erneuerbare Energie (BEE) kommt zu dem Schluss, dass die zu zahlende Versicherungssumme (Deckungssumme) für einen nuklearen Katastrophenfall bei rund 6.090 Milliarden Euro liegen würde. Kein Versicherungsunternehmen wäre bereit, eine solche Versicherung anzubieten. Im Fall eines Unfalls muss der Staat die Kosten tragen bzw. wird sie auf die Steuerzahlenden umlegen. Die Summe allein für die originären Schäden lag beim Reaktorunfall von Tschernobyl 1986 bereits bei ca. 200 Milliarden Dollar, bei Fukushima 2011 bei ca. 260 Milliarden Dollar (Folgekosten noch nicht inbegriffen).
In Anbetracht der Kosten für die Errichtung, Instandhaltung, Abfallentsorgung und Versicherung ist die Produktion von Atom-Strom wirtschaftlich unrentabel. Schon heute sind Erneuerbare Energien die kostengünstigste Lösung – dies bestätigt auch Dr. Simone Peter (Präsidentin des Bundesverbands Erneuerbare Energie e.V.) in unserem Interview. Im Vergleich zu 337 Milliarden Euro bei fossilen und 237 Milliarden Euro bei atomaren Energieträgern sind in die Förderung Erneuerbarer Energien in Deutschland seit den 1990er Jahren 146 Milliarden Euro geflossen.