Report „Digital Reset“ skizziert Chancen nachhaltiger Digitalisierung und fordert grundlegende Neuausrichtung digitaler Technologien
Die Zukunft ist digital – aber die digitale Ökonomie trägt aktuell nicht dazu bei, das die im Rahmen der Pariser Klimakonferenz COP21 2015 festgelegte 1,5-Grad-Grenze nicht überschritten wird. Das droht nämlich, so der Bericht „Digital Reset“ des Expertengremiums „Digitalization for Sustainability“, ein Projekt der TU Berlin und des Einstein Center Digital Future.
Der Energieverbrauch und die Treibhausgasemissionen der Digitalwirtschaft steigen laufend an, und in ihrer derzeitigen Form trägt die Digitalisierung eher zur Verschärfung sozialer und ökologischer Krisen bei, anstatt sie zu lösen. Zwar haben sich viele Tech-Unternehmen eigene Klimaziele gesetzt, diese stellen sich jedoch als unzureichend heraus. Der Report zeigt, wie die Digitalwirtschaft umlenken kann und wie digitale Technologien dabei helfen können, alle Wirtschaftssektoren auf einen nachhaltigen Pfad zu bringen.
Report „Digital Reset“ fordert grundlegende Neuausrichtung der digitalen Ökonomie
Die Regierungen zahlreicher Länder oder auch Staatenverbände, allen voran die Europäische Kommission, legen derzeit ambitionierte Gesetzesvorhaben zur politischen Steuerung digitaler Technologien, Medien und Plattformen vor. Darin liegt auch die Hoffnung, dass die Digitalisierung einen Beitrag zur Lösung der drängenden sozialen und ökologischen Krisen dieser Zeit leisten kann. Doch ein neuer Report mit dem Titel „Digital Reset. Redirecting Technologies for the Deep Sustainability Transformation“ legt dar, dass die Digitalisierung in ihrer aktuellen Form die Probleme eher verschärft als löst, und fordert eine grundlegende Neuausrichtung der digitalen Ökonomie.
Der Report ist das Ergebnis eines zweijährigen Forschungsdialogs zwischen 15 renommierten europäischen Expert*innen verschiedener Disziplinen. Diese haben sich im Expertengremium „Digitalization for Sustainability“ (D4S) zusammengeschlossen, einem Projekt der TU Berlin und des Einstein Center Digital Future, gefördert von der Robert-Bosch-Stiftung. Der Report basiert auf Literatur- und Metaanalysen der aktuellen Forschung und insbesondere auf einem interdisziplinären Dialog, der unter anderem sechs mehrtägige Workshops umfasste. Der Report erscheint pünktlich zur diesjährigen Bits & Bäume-Konferenz für Digitalisierung und Nachhaltigkeit vom 30. September bis 2. Oktober 2022 an der TU Berlin.
Die digitale Ökonomie verfehlt die Pariser Klimaziele
Steffen Lange von der TU Berlin, einer der Leitautoren des Reports, stellt fest: „In Nischen gibt es viele sinnvolle digitale Technologien. Doch im Großen und Ganzen trägt die derzeitige Form der Digitalisierung dazu bei, dass sich sozioökonomische Ungleichheiten erhöhen und negative Umwelteffekte die Vorteile überwiegen.“ Ein Blick auf den Energieverbrauch digitaler Technologien beispielsweise zeigt: Die Herstellung und Nutzung digitaler Geräte und Dienstleistungen macht bereits heute rund 8 bis 10 Prozent der weltweiten Stromnachfrage aus. Szenarien gehen von einem weiteren nutzungsbedingten Anstieg um 50 bis 80 Prozent bis 2030 aus. Die großen Big Tech-Unternehmen wie Alphabet (Google), Amazon, Apple, Meta (Facebook) und Microsoft haben sich zwar eigene Klimaziele gesetzt. Der Report zeigt aber, dass diese Ziele unzureichend sind.
Prof. Tilman Santarius von der TU Berlin und dem Einstein Center Digital Future, ebenfalls Leitautor des Reports, erklärt: „Keines der Big-Tech-Unternehmen befindet sich auf einem Entwicklungspfad, der mit dem 1,5-Grad-Ziel von Paris kompatibel ist. Unsere Analyse zeigt, dass sich der Energieverbrauch von Alphabet und Meta in den letzten fünf Jahren rund verdreifacht hat, linear zu ihren Einnahmen – und das trotz massiver Effizienzsteigerungen in ihren riesigen Rechenzentren.“ Die beiden großen umweltpolitischen Hoffnungen, Digitalisierung könne die Energieeffizienz steigern und digitale Dienstleistungen physische Produkte ersetzen, stellen sich in der Realität nicht ein. „Das Einsparpozential der Digitalisierung wird leider durch die intensivere Nutzung digitaler Technologien aufgefressen“, so Santarius.
Drei Bausteine für eine zukunftsfähige digitale Ökonomie
- „Um die Digitalwirtschaft auf den 1,5-Grad-Pfad zu bringen, müssen sich zuallererst der ökologische Fußabdruck und die sozialen Kosten der Herstellung und des Betriebs von digitalen Endgeräten, Rechenzentren und Infrastrukturen verringern. Hier ist eine Kombination aus Maßnahmen nötig, die nicht nur auf Effizienz, sondern vor allem auf Suffizienz und Kreislaufwirtschaft abzielen“, sagt Santarius.
- Als zweiten wichtigen Baustein identifizieren die Wissenschaftler*innen die Geschäftsmodelle der großen Tech-Unternehmen, die dringend auf das Gemeinwohl ausgerichtet werden müssen. Lange räumt ein: „Das ist keine leichte Aufgabe, denn die Politik muss hier beim Kerngeschäft der mächtigsten Unternehmen der Welt ansetzen. In unserem Report zeigen wir, wie eine Verschärfung des Monopolrechts, die konsequente Durchsetzung sozialer, ökologischer und ökonomischer Standards und zugleich die Förderung alternativer Geschäftsmodelle einen Richtungswechsel einleiten können.“
- Drittens ist eine gemeinwohlorientierte Nutzung digitaler Daten sowie von Anwendungen der Künstlichen Intelligenz (KI) zentral. „Die Politik hat inzwischen die Bedeutung von Big Data und KI-basierten Systemen erkannt. Aber die ökologischen Chancen und Risiken werden bisher noch gar nicht in den Blick genommen“, sagt Santarius. Der Report schlägt vor, dass Entwickler*innen von KI-Systemen verpflichtend über Energieverbrauch und Emissionen während der Entwicklungs- und Trainingsphase berichten müssen. Denn nur auf dieser Grundlage kann die Politik sicherstellen, dass die Anwendungen tatsächlich Einsparungen erzielen.
Digitale Technologien können eine Transformation in allen Wirtschaftssektoren vorantreiben
Der größte Teil des Reports legt politische Maßnahmen vor, wie Digitalisierungsprozesse so gestaltet werden können, dass sie einer tiefgreifenden Nachhaltigkeitstransformation aller Wirtschaftssektoren – Landwirtschaft, Mobilität, Industrie, Energie, Wohnen und Konsum – dienen. Lange ist sicher: „Wenn Digitalpolitik vor allem darauf abzielt, das Wirtschaftswachstum anzukurbeln und die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen zu stärken, dann werden umweltpolitische Maßnahmen zu kurz greifen. Stattdessen muss es darum gehen, dass sich die politische Gestaltung sämtlicher Sektoren – von der Agrar- über die Verkehrs- bis zur Industriepolitik – systematisch mit den Chancen und Risiken des digitalen Wandels auseinandersetzt.“
Ein eingängiges Beispiel liefert hier der Gebäudesektor: In den vergangenen drei Jahrzehnten ist die Wohnfläche pro Kopf gestiegen und der Neubau hat hohe Umweltkosten verursacht – dies hat das Einsparpotenzial durch Dämmung und effizienteres Heizen konterkariert. Vor diesem Hintergrund zeigt der Report auf, wie politische Entscheidungsträger*innen die Wachstumsraten beim Neubau senken können, und nennt hier digitale Planungstools, eine Förderung von Plattformen zum Office-Sharing und flankierende ökonomische Anreize.
Santarius merkt an: „Eine neue Datenkultur und eine innovative Digitalpolitik für den Bausektor würden nicht nur zum Klimaschutz beitragen, sondern könnten auch die finanziellen Nöte von Mieter*innen und Eigentümer*innen lindern, die in den nächsten Monaten und Jahren aufgrund der Energiekrise, ausgelöst durch den Russland-Krieg, deutlich an Brisanz gewinnen dürften.“
->Quellen:
- Report „Digital Reset“: digitalization-for-sustainability.com/digital-reset
- Steffen Lange und Tilman Santarius, Lina Dencik, Tomas Diez, Hugues Ferreboeuf, Stephanie Hankey, Angelika Hilbeck, Mattias Höjer, Lorenz Hilty, Dorothea Kleine, Johanna Pohl, Lucia Reisch, Marianne Ryghaug, Tim Schwanen, Philipp Staab: Digitalization for Sustainability (D4S), 2022: Digital Reset. Redirecting Technologies for the Deep Sustainability Transformation. Berlin: TU Berlin. http://dx.doi.org/10.14279/depositonce-16187
- tu.berlin/go137221
- depositonce.tu-berlin.de/8b1ae0f9-68d3-431b-bde9-d467db1dbe8d
- digital-future.berlin