Leopoldina-Leitideen für die internationale, europäische und nationale Ebene

Diskussionspapier zur Energiewende fordert technologieoffene Transformationsstrategien

Ein am 06.03.2023 veröffentlichtes Leopoldina-Diskussionspapier unter dem Titel  „Leitideen für die Transformation des Energiesystems“ erörtert Ansätze für eine effektive und tragfähige Energiewende. Das Papier bildet einen Input für den Forschungsgipfel von Stifterverband, Expertenkommission Forschung und Innovation, VolkswagenStiftung und Nationaler Akademie der Wissenschaften Leopoldina, der am Dienstag, 28.03.2023 in Berlin stattfinden wird.

Wasserdampf-, CO2- und Rauchausstoß in Berlin – Foto © Gerhard Hofmann, Agentur Zukunft, für Solarify

Erforderlich seien Transformationsstrategien, die von den zu erreichenden Zielen her konzipiert, daher möglichst technologieoffen sind und so weit wie möglich die Attraktivität privater Investitionen in die Transformation erhöhen, so die Autorinnen und Autoren. Dafür ist vor allem die Klärung von Rahmenbedingungen für Investitionen und deren Verlässlichkeit zentral. Parallel sollen Anreize und Vorgaben eine effizientere Energienutzung bewirken. Damit die Energiewende gelingt, ist ein breiter gesellschaftlicher Partizipations- und Diskussionsprozess wichtig, für den das Diskussionspapier Leitideen vorstellt.

Zum Thema Kohlenstoffkreislaufmanagement weisen die Autorinnen und Autoren darauf hin, dass parallel zur ersten Phase der Klimapolitik – der drastischen Verminderung der Emissionen – die zweite Phase der Klimapolitik bereits jetzt beginnen muss. In dieser zweiten Phase werden nicht vermeidbare Emissionen der Atmosphäre wieder entnommen. Für die notwendigen Technologien und Maßnahmen müssen ausreichende Anreize zur Innovation geschaffen werden. Für die Zertifizierung der Technologien brauche es ein Rahmenwerk auf EU-Ebene, so die Fachleute. Hinsichtlich der Klimapolitik empfiehlt das Diskussionspapier eine europäische und ressortübergreifende Weiterentwicklung, die statt auf protektionistische Elemente auf eine Vertiefung der Kooperationen innerhalb der EU und mit Drittstaaten setzt. Ein wichtiges Instrument in der Klimapolitik sollte der Ausbau des europäischen Emissionshandels zu einem einheitlichen, transparenten, langfristig tragfähigen und alle Emissionen umfassenden Steuerungsrahmen sein.

Ein künftig auf erneuerbaren Energien basierendes Energiesystem wird zu einem erheblichen Maß auf Elektrizität beruhen, schreiben die Expertinnen und Experten. Weil der Energieertrag aus Sonnen-, Wind- und Wasserkraft schwankt und Speichertechnologien bisher nur begrenzte Kapazitäten haben, müssen stoffliche Energieträger eine zentrale Rolle spielen, insbesondere Wasserstoff. Dieser sollte dort produziert werden, wo die Energieerzeugung aus Photovoltaik oder Windenergie sehr kostengünstig ist, um die Umwandlungsverluste zu kompensieren. Dies könne zudem in Ländern mit niedrigem Bruttoinlandsprodukt (BIP) zu einer nachhaltigen Entwicklung beitragen.

Die Autorinnen und Autoren weisen auf die Notwendigkeit hin, den Netzausbau für stoffliche Energieträger und Strom entschieden voranzutreiben. Da jedoch Wasserstoff und seine Derivate auf längere Sicht nicht in der Höhe des für Deutschland voraussichtlich bestehenden Bedarfs verfügbar sein werden, muss die Energieversorgung noch längere Zeit auch auf Erdgas beruhen. Deshalb seien für eine Übergangszeit parallele Strukturen für Erdgas, Wasserstoff und Wasserstoff-Derivate notwendig. In der Umstellungsphase müsse die Rolle von Gaskraftwerken gestärkt werden. Nicht zuletzt empfehlen die Expertinnen und Experten, an der Transformation des Energiesystems das ganze Spektrum der Wissenschaftsdisziplinen zu beteiligen, zum Beispiel auch die Wirtschafts-, Sozial-, Verhaltens- und Politikwissenschaften. In den Technikwissenschaften ist die Organisation der Schnittstelle zwischen Forschung und industrieller Nutzung von entscheidender Bedeutung.

Impulsvortrag Robert Schlögls bei Forschungsgipfel

Die Veröffentlichung ist ein Beitrag in Vorbereitung auf den diesjährigen Forschungsgipfel am 28.03.2023 in Berlin. Der Mitautor und Leopoldina-Mitglied Prof. Dr. Robert Schlögl wird in diesem Rahmen einen Impulsvortrag zum Thema halten. Der Forschungsgipfel zeigt einmal im Jahr Zukunftsperspektiven für das deutsche Forschungs- und Innovationssystem auf und gibt Orientierung für strategische Entscheidungen. Er fördert als interdisziplinäres Forum Dialog und Vernetzung. Veranstalter des Forschungsgipfels sind der Stifterverband, die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, die Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) sowie die VolkswagenStiftung.

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Den kritischen Zeitpunkt nicht verpassen – Leitideen für die Transformation des Energiesystems

Von Ottmar Edenhofer, Veronika Grimm, Gerald Haug, Jochem Marotzke, Wolfgang Marquardt, Robert Schlögl, Christoph M. Schmidt, Ferdi Schüth und Ulrich Wagner

Der kritische Zeitpunkt, an dem Deutschland und Europa die Voraussetzungen für eine Erreichung der Pariser Klimaziele schaffen können, ist bald verstrichen. Zentraler Hebel für Klimaneutralität ist die Transformation des Energiesystems und die Bereitstellung von Technologien, die dies auch weltweit ermöglichen. Entschiedenes Handeln ist umso notwendiger, als die Folgen des Klimawandels immer deutlicher spürbar werden. Vielfältige internationale Krisen wie der russische Angriffskrieg auf die Ukraine verschärfen Zielkonflikte und erschweren die globale Kooperation, die notwendig ist, um das Ziel der Klimaneutralität zu erreichen.

  • Der Handlungsbedarf ist groß und dringlich. Es gilt, jetzt die Anstrengungen deutlich zu verstärken und zu erweitern sowie durch konsequente Entscheidungen auf nationaler und europäischer Ebene die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Transformation zu schaffen.
  • Mittel- und langfristig effektive und tragfähige Maßnahmen müssen priorisiert werden. Dies erfordert Transformationsstrategien, die von den zu erreichenden Zielen her konzipiert und daher möglichst technologieoffen sind. Sie müssen so weit wie möglich die Attraktivität privater Investitionen in die Transformation erhöhen. Dafür ist vor allem die Klärung von Rahmenbedingungen für Investitionen und deren Verlässlichkeit zentral.
  • Es ist unerlässlich, wirksame Anreize und Vorgaben für eine effizientere Energienutzung zu verstärken bzw. neu zu schaffen. Weiterhin ist der Ausbau der erneuerbaren Energien schnell und mit oberster Priorität voranzutreiben. Infrastrukturen für Strom und stoffliche Energieträger (Wasserstoff und seine Derivate) müssen energisch ausgebaut und vorhandene Infrastrukturen umgebaut und umgenutzt werden.
  • Für das Gelingen der Energiewende ist ein breiter gesellschaftlicher Partizipations- und Diskussionsprozess eine wichtige Voraussetzung. In diesem Kontext stellt die Fokusgruppe „Klima und Energie“ der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina ihre Leitideen für die nächste Phase der Transformation des Energiesystems vor.

Die Leopoldina-Fokusgruppe „Klima und Energie“ gibt Impulse für die mittelfristige Gestaltung des deutschen und europäischen Energiesystems und nimmt kurzfristig zu aktuellen Entwicklungen Stellung.

Im Wortlaut: Sechs Leitideen für die Transformation des Energiesystems Sechs Leitideen für die Transformation des Energiesystems
Systemisches Kohlenstoffkreislaufmanagement etablieren.

Das Ziel der Klimaneutralität markiert den Einstieg in eine neue Phase der globalen Klimapolitik. In der bisherigen ersten Phase der Klimapolitik ging es um die drastische Verminderung der Emissionen der nationalen Energiesysteme durch den Einsatz von Vermeidungstechniken. So muss zunächst die Kohle aus dem Stromsektor gedrängt werden. Dies ist eine Voraussetzung für die direkte und indirekte Elektrifizierung des Industrie-, Verkehrs- und Gebäudesektors. Diese Phase ist noch nicht abgeschlossen.

In einer zweiten Phase der Klimapolitik, die jetzt bereits beginnen muss, müssen die verbleibenden nicht oder nur schwer vermeidbaren, jedoch erheblichen Emissionen der Atmosphäre wieder entnommen werden (Carbon Dioxide Removal, CDR). Gemessen am heutigen Entnahmeniveau werden bis 2050 mit großer Wahrscheinlichkeit zusätzliche Entnahmen in Höhe von 2,3 bis 7,4 Gigatonnen pro Jahr notwendig. Es wird empfohlen, verstärkt auf europäischer Ebene Pilotprojekte anzustoßen und zu finanzieren. Ohne Kohlenstoffentnahme wird weder das Ziel von Netto-Nullemissionen bis zur Jahrhundertmitte erreichbar noch die nachhaltige Herstellung von synthetischen Kraftstoffen (E-Fuels), Grundchemikalien und deren Derivaten möglich sein. Daraus ergeben sich innovationspolitische, technische und regulatorische Herausforderungen, die durch entschlossenes politisches Handeln auf globaler, europäischer und nationaler Ebene bewältigt werden müssen.

Sowohl die EU als auch die Bundesregierung sollten ein explizites Ziel zur Entnahme von Kohlendioxid aus der Atmosphäre für 2050 formulieren. Vor diesem Hintergrund wird in Deutschland Carbon Capture and Utilization (CCU) und Carbon Capture and Storage (CCS) neu diskutiert werden müssen. Hierfür notwendige Technologien und Maßnahmen Erlach et al. (2022), Smith et al. (2023). Sechs Leitideen für die Transformation des Energiesystems werden auf nachhaltige Anreizsysteme angewiesen sein. So ist frühzeitig auszuloten, wie ausreichende Anreize zur Innovation geschaffen werden können, etwa durch geeignete Auktions- und Bepreisungsverfahren. Kohlenstoffentnahme-Methoden werden auch auf freiwilligen Kompensationsmärkten eine zunehmende Rolle spielen. Daher ist es notwendig, rasch ein Rahmenwerk für die Zertifizierung dieser Technologien auf der EU-Ebene zu entwickeln. Außerdem muss das Zusammenspiel mit dem Europäischen Emissionshandel schnell geklärt werden.

Klimapolitik europäisch und ressortübergreifend gestalten.

Auf europäischer Ebene sollten die Klimaschutzmaßnahmen von protektionistischen Elementen absehen und vielmehr auf eine Vertiefung der Kooperationen innerhalb der EU und mit Drittstaaten setzen. Die Priorität der Klimapolitik sollte der beschleunigte Ausbau des europäischen Emissionshandels zu einem einheitlichen, transparenten, langfristig tragfähigen und alle Emissionen umfassenden Steuerungsrahmen sein. Dieser Rahmen sollte ausdrücklich auf einer eindeutigen und nachprüfbaren Definition der mit einem jeden Energieträger verbundenen CO2-Belastung beruhen. Damit würde die politische Diskussion auf eine quantifizierbare und ökonomisch bewertbare Grundlage gestellt.

Der Europäische Emissionshandel als das zentrale Steuerungsinstrument der europäischen Klimaschutzpolitik wäre genauso einbezogen wie die Handelsbedingungen für erneuerbare Energieträger.

Die EU-Mitgliedstaaten müssen entscheiden, mit welchen Instrumenten sie diese Verpflichtungen einhalten wollen. Die Bundesregierung sollte rasch prüfen, wie das Brennstoffemissionshandelsgesetz (BEHG) nach dem Jahr 2027 in das europäische System integriert werden kann. Darüber hinaus sollte die Bundesregierung darauf hinwirken, dass ein Fahrplan entwickelt wird, wie die gesamten Emissionen in einen einzigen Emissionshandel (EU-Emission Trading System – ETS 1und ETS 2) integriert werden können. Die Rückzahlung eines Teils der [Kalkuhl et al. (2022); Ariadne Hintergrund (2022)] Einnahmen aus der CO2-Bepreisung könnte soziale Härten ausgleichen und zur gesellschaftlichen Akzeptanz beitragen: Gerade untere Einkommensgruppen verzeichnen relativ zu ihrem Einkommen hohe Energieausgaben und können daran wenig ändern. Die energiepolitische Transformation ist ein komplexer Aushandlungsprozess zwischen unterschiedlichen politischen Ebenen (Kommunen, Länder, Bund und EU) und berührt verschiedene Ressortzuständigkeiten. Um diese Herausforderung zu bewältigen, bedarf es allerdings dynamischer Governance-Strukturen. Ein koordinierendes Gremium innerhalb der Bundesregierung könnte einen Beitrag dazu leisten, die unterschiedlichen Ressortzuständigkeiten zu bündeln und strategisch auch auf EU-Ebene auszurichten. Wasserstoff-Energiewirtschaft aufbauen und den dringend benötigten Wasserstoffimport ermöglichen.

Ein zukünftiges, weitgehend auf erneuerbarer Energie basierendes Energiesystem wird zu einem erheblichen Maße auf Elektrizität beruhen.

Dies ist darauf zurückzuführen, dass die meisten erneuerbaren Energien primär elektrische Energie liefern, so z. B. Photovoltaik, Windenergie und Wasserkraft als die Technologien mit den höchsten technischen Potenzialen. Elektrische Energie kann allerdings nicht einfach gespeichert werden, wenngleich Batteriespeicher immer leistungsfähiger und kostengünstiger werden. Die weitreichende Elektrifizierung aller Gesellschafts- und Wirtschaftsbereiche, ein zentraler Baustein der Transformation des Energiesystems, reicht allein aber nicht aus. Damit diese Transformation gelingen kann, müssen stoffliche Energieträger ebenfalls eine zentrale Rolle spielen. Diese sind Wasserstoff, E-Methan, Ammoniak, Methanol, Liquid Organic Hydrogen Carriers (LOHC) und E-Fuels. Da in einem Energiesystem, das auf erneuerbaren Energien beruht, die Energie in elektrischer Form bereitgestellt wird, kann auf absehbare Zeit nur die Elektrolyse von Wasser zur Wasserstoffherstellung der erste Schritt zu einem stofflichen Energieträger [EFI (2023). acatech/Leopoldina/Akademienunion (2023)] sein. Wasserstoff sollte dort produziert werden, wo die Energieerzeugung aus erneuerbaren Quellen (z. B. aus Photovoltaik, Windenergie) sehr kostengünstig ist, um die Umwandlungsverluste zu kompensieren.

Die Wasserstoffproduktion in sonnen- oder windreichen Weltregionen kann zudem in Ländern mit niedrigem Bruttoinlandsprodukt zur wirtschaftlichen Diversifizierung und nachhaltigen Entwicklung beitragen.

Das Potenzial Deutschlands zur Herstellung von Wasserstoff mittels erneuerbarer Energien reicht zur Deckung des erwarteten Bedarfs bei weitem nicht aus. Ein Großteil des Wasserstoffbedarfs wird folglich importiert werden; für den Transport müssen die technischen und logistischen Voraussetzungen geschaffen werden. Diese Importe müssen auf großer Skala – gerade angesichts der komplexen Regulierungs- und Genehmigungsverfahren in Europa – schnell angestoßen werden. Vorstellbar wären langfristige Lieferverträge mit bestimmten Abnahmegarantien oder staatliche Ausfallbürgschaften. Hierbei ist allerdings durch eine bewusste internationale Diversifikation – die auch Partner auf dem afrikanischen Kontinent einbezieht – sicherzustellen, dass der Handel mit klimaneutralen Energieträgern keine neuen einseitigen Abhängigkeiten schafft.

Den Netzausbau für stoffliche Energieträger und Strom entschieden vorantreiben.

Da Wasserstoff und seine Derivate auf längere Sicht nicht in der Höhe des für Deutschland voraussichtlich bestehenden Bedarfs verfügbar sein werden, muss die Energieversorgung noch auf längere Zeit auch auf Erdgas beruhen. Es ist zu erwarten, dass der Verzicht auf Kohle in der Industrie wie in der Stromversorgung auf absehbare Zeit sogar eine Steigerung des Erdgasbedarfes zur Folge haben wird. Deshalb werden für eine Übergangszeit parallele Strukturen für Erdgas, Wasserstoff und Wasserstoff-Derivate unvermeidlich sein. Umso entschiedener sollte Schätzungen für den jährlichen inländischen Bedarf an Wasserstoff und dessen Syntheseprodukten kommen zu stark unterschiedlichen Ergebnissen. Die Schätzungen belaufen sich auf 400 bis 700 Terawattstunden bis 2045 (Staiß et al. 2022) bzw. auf 200 bis 800 Terawattstunden für das Jahr 2050 (Wietschel et al. 2021); Für einen Vergleich von Transportoptionen siehe Staiß et al. (2022).

Sechs Leitideen für die Transformation des Energiesystems der Ausbau der Transport- und Speicherinfrastruktur für Wasserstoff und andere stoffliche Energieträger einschließlich Saisonalspeicher durch Neubau- und Umnutzungsprojekte vorangetrieben werden. Es sollte jetzt entschieden werden, wer die jeweilige Finanzierung und Trägerschaft der notwendigen Infrastruktur übernimmt.

Durch die zunehmende Elektrifizierung von Wärmeproduktion und Mobilität ist zu erwarten, dass sich der Stromverbrauch verdoppeln wird. Daher ist eine rasche Erweiterung des deutschen Stromnetzes zu planen und rechtssicher umzusetzen. In die richtige Richtung weist die jüngste Gesetzesnovelle zur Beschleunigung von Planungsund Genehmigungsverfahren und dem damit verbundenen Ausbau des Stromnetzes. Dies ist umso dringlicher, da sich die Umsetzung bereits vorliegender bzw. genehmigter Ausbaupläne seit Jahren verzögert.

Der konsequente Ausbau des Stromnetzes (Verbund- und Verteilnetz) bei gleichzeitiger Digitalisierung seiner Steuerung (Smart Grid) ist die Grundlage für die angestrebte Elektrifizierung aller Gesellschaftsbereiche.

Die Rolle von Gaskraftwerken in der Umstellungsphase stärken.

Sowohl infolge der zu erwartenden Vergrößerung des Strombedarfes durch vermehrte Elektrifizierung als auch infolge des Ausstiegs aus Kohle und Kernenergie wird der Bedarf an Gaskraftwerken wachsen. Die begonnene Neuordnung des heimischen Strommarktes muss dies unter Beachtung der europäischen Märkte berücksichtigen. Diese Reform ist eine entscheidende Grundlage der Energiewende und muss daher langfristig verlässlich sein. Ein leitender Gesichtspunkt sollte sein, dass auch in Zukunft erhebliche Kapazitäten von Kraftwerken bestehen müssen, die zunächst mit Erdgas betrieben, perspektivisch aber auf erneuerbar erzeugte stoffliche Energieträger (Wasserstoff und Derivate) umgestellt [Szenarien gehen von einem Bedarf bis 1200 Terawattstunden bis zum Jahr 2050 aus (IEK-FZJ 2022, Prognos et al. 2021). Dies betrifft die Umsetzung der EU-Notfallverordnung vom 19. Dezember 2022 (Verordnung EU 2022/2577) in nationales Recht. acatech/Leopoldina/Akademienunion (2021).] werden. An heutigen Standorten der Kohlekraftwerke ließe sich die dort bereits existierende Infrastruktur und ihre nationale Anbindung für stoffliche Energieträger weiter nutzen.

Das ganze Spektrum der Wissenschaftsdisziplinen für die Transformation nutzen.

Weit stärker als bisher sollten Erkenntnisse der Wirtschafts-, Sozial-, Verhaltens- und Politikwissenschaften aufgegriffen und die entsprechende systemorientierte Forschung im Verbund mit technik- und geowissenschaftlich orientierten Disziplinen ausgebaut werden. Dies ist beispielsweise notwendig, um einerseits die Wechselwirkungen zwischen den nationalen und internationalen Akteuren der Energiewende zu erfassen und andererseits die Handlungsoptionen für Technologie, Organisation, Kommunikation, Verbreitung und Partizipation zu erarbeiten.

Auf diesen Feldern bestehen teils erhebliche Forschungslücken bei der Identifikation konkreter politischer Maßnahmen, die zur Klimaneutralität beitragen können. Forschungsbasierte Szenarien könnten hier allen beteiligten Akteursgruppen Orientierung bieten: Sie können darüber Auskunft geben, was welchen Akteuren unter welchen Rahmenbedingungen abverlangt würde, wenn ein bestimmter energiepolitischer Transformationspfad beschritten würde. Auf dieser Grundlage könnten vorausschauende und informierte politische Entscheidungen getroffen werden.

Auch mit Blick auf die systemische Gestaltung der Energieversorgung bestehen große Forschungsbedarfe. Dies betrifft zum Beispiel marktkonforme Governance-Strukturen für eine sichere, bezahlbare und nachhaltige Energieversorgung sowie konkrete Strategien, die bei der Integration variabler erneuerbarer Energien helfen und gleichzeitig die Dekarbonisierung von Gebäudewärme, Transport und Industrie im Sinne einer systemdienlichen Sektorkopplung unterstützen. Darüber hinaus sollten Strategien der Energieeffizienzsteigerung und des Infrastrukturumbaus erforscht werden, die robust gegenüber den Unsicherheiten bei der Technologieentwicklung sind. Nicht weniger wichtig ist eine stabile und verlässliche Grundlagenforschung für die Energiekonversion und -speicherung. Die Forschung an neuen Konzepten, Prozessen und Materialien muss dringend ausgeweitet werden, selbst wenn anfänglich kein unmittelbarer Anwendungszweck oder direkt spürbarer Beitrag zur Energiewende erwartet wird.

Von entscheidender Bedeutung ist die Organisation der Schnittstelle zwischen Forschung und industrieller Nutzung. Hier werden vor allem Transferprojekte und skalierte Demonstratoren, auch in Realumgebungen, benötigt. Nur langdauernde Betriebsversuche mit Stoffumsätzen im Bereich von tausenden Tonnen pro Jahr und entsprechenden Energiemengen können die Marktfähigkeit von solchen Verfahren und Produkten nachweisen, die Infrastrukturen mit jahrzehntelanger Bindewirkung erfordern. Neben der Entwicklung und Validierung von die Energiewende ermöglichenden Technologien bedarf es einer transformationsorientierten Forschung, um auf Ebene eines produzierenden, energieintensiven Unternehmens geeignete Transformationspfade zu identifizieren und deren Chancen und Risiken zu bewerten.

Technologien der Kernfusion, die auf dem kontrollierten Verschmelzen von Atomkernen bei extrem hohen Temperaturen basieren, werden für die Erreichung der Klimaneutralität bis 2045 voraussichtlich keine Rolle spielen. Auf einer langfristigeren Zeitskala könnte die Kernfusion im Sinne eines Komplements zu dann etablierten erneuerbaren Energiequellen einen wichtigen Beitrag zur Energieversorgung leisten.

Literaturverzeichnis

  • acatech/Leopoldina/Akademienunion (Hrsg.) (2021): Resilienz digitalisierter Energiesysteme. Schriftenreihe zur wissenschaftsbasierten Politikberatung, München, https://energiesysteme-zukunft.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/ PDFs/ESYS_Resilienz_digitalisierter_Energiesysteme.pdf (Stand: 02.03.2023).
  • acatech/Leopoldina/Akademienunion (Hrsg.) (2023): Wie wird Deutschland klimaneutral? Handlungsoptionen für Technologieumbau, Verbrauchsreduktion und Kohlenstoffmanagement.
  • Schriftenreihe zur wissenschaftsbasierten Politikberatung, München, https://energiesysteme-zukunft.de/fileadmin/ user_upload/Publikationen/PDFs/ESYS_Stellungnahme_IntEv.pdf (Stand: 02.03.2023).
  • Ariadne Hintergrund (2022): Eckpunkte und no-regret Maßnahmen für die Weiterentwicklung der CO2-Bepreisung auf deutscher und europäischer Ebene. Potsdam, https:// ariadneprojekt.de/media/2022/02/Ariadne-Hintergrund_ WeiterentwicklungCO2-Bepreisung_Februar2022, pdf ( Stand: 02.03.2023).
  • Erlach, B., Fuss, S., Geden, O., Glotzbach, U., Henning, H.-M. et al. (2022): Was sind negativeEmissionen, und warum brauchen wir sie?. Kurz erklärt!. ESYS, München, https://energiesysteme-zukunft.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/ PDFs/KurzErklaert_neg.Emissionen.pdf (Stand: 02.03.2023).
  • Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) (Hrsg.) (2023): Gutachten zu Forschung, Innovation und technologischer Leistungsfähigkeit Deutschlands 2023. Berlin, e-fi.de/fileadmin/Assets/Gutachten/2023/ EFI_Gutachten_2023.pdf ( Stand: 28.02.2023).

Literaturverzeichnis

  • IEK-FZJ – Institut für Energie- und Klimaforschung, Forschungszentrum Jülich (2022): Neue Ziele auf alten Wegen? Strategien für eine treibhausgasneutrale Energieversorgung bis zum Jahr 204. Schriften des Forschungszentrums Jülich, Reihe Energie & Umwelt / Energy & Environment Band 577. Jülich, https:// juser.fz-juelich.de/record/908382/files/Energie_Umwelt_577.pdf (Stand: 02.03.2023).
  • Kalkuhl, M., Franks M., Gruner F., Lessmann K., Edenhofer O. (2022): Pigou’s Advice and Sisyphus’ Warning: Carbon Pricing with Non-Permanent Carbon- Dioxide Removal. CESifo Workin Paper No. 10169, https://dx.doi.org/10.2139/ssrn.4315996.
  • Prognos, Öko-Institut, Wuppertal-Institut (2021): Klimaneutrales Deutschland 2045 – Wie Deutschland seine Klimaziele schon vor 2050 erreichen kann.
  • Zusammenfassung im Auftrag von Stiftung Klimaneutralität, Agora Energiewende und Agora Verkehrswende, https://static.agora-energiewende.
  • de/fileadmin/Projekte/2021/2021_04_KNDE45/A- EW_209_KNDE2045_Zusammenfassung_ DE_WEB.pdf (Stand: 02.03.2023).
  • Smith, S., Geden, O., Nemet, G., Gidden, M., Lamb, W., Powis, C., Bellamy, R., et al. (2023). State of Carbon Dioxide Removal – 1st Edition. https://doi.org/10.17605/OSF.IO/W3B4Z.
  • Staiß, F., Adolf, J., Ausfelder, F., Erdmann, C., Fischedick, M. et al. (2022): Optionen für den Import grünen Wasserstoffs nach Deutschland bis zum Jahr 2030: Transportwege – Länderbewertungen – Realisierungserfordernisse.
  • Schriftenreihe Energiesysteme der Zukunft, ESYS. München, https://doi.org/10.48669/esys_2022-6.
  • Wietschel, M., Zheng, L., Arens, M., Hebling, C., Ranzmeyer, O. et al. (2022): Metastudie Wasserstoff – Auswertung von Energiesystemstudien. Studie im Auftrag des Nationalen Wasserstoffrats. Fraunhofer ISI, Fraunhofer ISE, Fraunhofer IEG. Karlsruhe, Freiburg, Cottbus, isi.fraunhofer.de/ content/dam/isi/dokumente/cce/2021/Metastudie_Wasserstoff_Abschlussbericht.
  • pdf (Stand: 02.03.2023).

Autorinnen und Autoren

  • Ottmar Edenhofer ML Potsdam-Institut für Klimafolgen-forschung, Potsdam und Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change, Berlin
  • Veronika Grimm Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
  • Gerald Haug ML Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, Halle (Saale)
  • Jochem Marotzke ML Max-Planck-Institut für Meteorologie, Hamburg
  • Wolfgang Marquardt ML Forschungszentrum Jülich
  • Robert Schlögl ML Fritz-Haber-Institut der Max-Planck- Gesellschaft und Alexander von Humboldt-Stiftung, Berlin
  • Christoph M. Schmidt ML RWI – Leibniz-Institut für Wirtschafts- forschung, Essen
  • Ferdi Schüth ML Max-Planck-Institut für Kohlenforschung, Mülheim
  • Ulrich Wagner TU München und Forschungsstelle für Energiewirtschaft e. V., München ML – Mitglied der Leopoldina
  • Wissenschaftliche Mitarbeit und Koordination
  • Christian Anton Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, Abteilung Wissenschaft – Politik – Gesellschaft
  • Stefan Artmann Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina,
  • Präsidialbüro Kathrin Happe Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, Abteilung Wissenschaft – Politik – Gesellschaft
  • Johannes Schmoldt Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, Abteilung Wissenschaft – Politik – Gesellschaft
  • Sebastian Wetterich Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, Abteilung Wissenschaft – Politik – Gesellschaft
  • Matthias Winkler Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, Abteilung Wissenschaft – Politik – Gesellschaft

Weitere Veröffentlichungen aus der Reihe „Leopoldina Diskussion“

  • Nr. 30: Organisatorische Voraussetzungen der Notfallvorsorge für Kulturgüter – 2023
  • Nr. 29: Die rechtlichen Grundlagen der Notfallvorsorge für Kulturgüter – 2022 Nr. 28: Ärztliche Aus-, Weiter- und Fortbildung – für eine lebenslange Wissenschaftskompetenz in der Medizin – 2022
  • Nr. 27: Nutzen von wissenschaftlicher Evidenz – Erwartungen an wissenschaftliche Expertise – 2021
  • Nr. 26: Neuregelung des assistierten Suizids – Ein Beitrag zur Debatte – 2021
  • Nr. 25: Ansatzpunkte für eine Stärkung digitaler Pandemiebekämpfung – 2021
  • Nr. 24: Globale Biodiversität in der Krise – Was können Deutschland und die EU dagegen tun? – 2020
  • Nr. 23: Spuren unter Wasser – Das kulturelle Erbe in Nord- und Ostsee erforschen und schützen – 2019
  • Nr. 22: Übergewicht und Adipositas: Thesen und Empfehlungen zur Eindämmung der Epidemie – 2019
  • Nr. 21: Wie sich die Qualität von personenbezogenen Auswahlverfahren in der Wissenschaft verbessern lässt: Zehn Prinzipien – 2019
  • Nr. 20: Gemeinsam Schutz aufbauen – Verhaltenswissenschaftliche Optionen zur stärkeren Inanspruchnahme von Schutzimpfungen – 2019
  • Nr. 19: Die Bedeutung von Wissenschaftlichkeit für das Medizinstudium und die Promotion – 2019
  • Nr. 18: Planbare Schwangerschaft – perfektes Kind? – 2019 Nr. 17: Zukunftsfähigkeit der Luftfahrtforschung in Deutschland – 2018
  • Nr. 16: Der stumme Frühling – Zur Notwendigkeit eines umweltverträglichen Pflanzenschutzes – 2018
  • Nr. 15: Ärztliches Handeln – Erwartungen und Selbstverständnis – 2017

Diese und weitere Diskussionspapiere der Leopoldina stehen kostenfrei unter folgendem Link zum Download zur Verfügung: www.leopoldina.org/publikationen/stellungnahmen/diskussionspapiere

Nationale Akademie der Wissenschaften – Jägerberg 1 06108 Halle (Saale) Tel.: (0345) 472 39-867 E-Mail: politikberatung@leopoldina.org

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Die 1652 gegründete Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina ist mit ihren rund 1.600 Mitgliedern aus nahezu allen Wissenschaftsbereichen eine klassische Gelehrtengesellschaft. Sie wurde 2008 zur Nationalen Akademie der Wissenschaften Deutschlands ernannt. In dieser Funktion hat sie zwei besondere Aufgaben: die Vertretung der deutschen Wissenschaft im Ausland sowie die Beratung von Politik und Öffentlichkeit. Die Leopoldina tritt auf nationaler wie internationaler Ebene für die Freiheit und Wertschätzung der Wissenschaft ein. In ihrer Politik beratenden Funktion legt die Leopoldina fachkompetent, unabhängig, transparent und vorausschauend Empfehlungen zu gesellschaftlich relevanten Themen vor. Sie begleitet diesen Prozess mit einer kontinuierlichen Reflexion über Voraussetzungen, Normen und Folgen wissenschaftlichen Handelns.

->Quellen: