Für Null-Emissionen in Europa
Europa ist an einem Wendepunkt angekommen. Mehr denn je spüren die BürgerInnen die unmittelbaren Folgen des dramatischen Klimanotstands in ihrem Alltag: riesige Waldbrände, winterliche Dürren, sommerliche Hitzewellen und sintflutartige Regenfälle sind zur Realität geworden, die sich auf dem Kontinent noch verstärken wird. Die französische Denkfabrik Négawatt hat nun gemeinsam mit 26 Instituten aus 20 Ländern ein (englischsprachiges) Szenario für Null-Emissionen in Europa vorgestellt. Ziel ist es, durch Verhaltensänderungen einen „realistischen Pfad“ darzustellen. Die Untersuchung bezieht sich dabei auf die Donut-Ökonomie, die nicht nur die Grenzen des Planeten (ökologischer Fußabdruck) berücksichtigt, sondern auch soziale Belange wie Wohnen, Trinkwasser, und Gesundheit.
Zu den Vorschlägen für klimafreundliches Verhalten gehören:
- Tempolimits;
- Verbot von Flügen, wenn Zugfahrten genauso schnell sind;
- Verbot von Geländewagen (SUVs) – auch elektrische;
- Ausstieg aus fossilen Heizungen;
- Ende der immer größer werdenden Wohnflächen;
- kostenloser ÖPNV.
Inzwischen hat der Einmarsch der Russischen Föderation in der Ukraine die Karten in der europäischen Energiepolitik völlig neu gemischt, indem die Energiesicherheit in den Vordergrund gerückt wurde und die Dringlichkeit der Energiesicherheit mit der des Klimanotstands in Einklang gebracht wurde. Die Auswirkungen auf die Energiepreise und darüber hinaus verschärfen die ohnehin schon großen Ungleichheiten. Auf globaler Ebene wurden bereits 6 der 9 planetarischen Grenzen überschritten, wodurch das menschliche Leben auf der Erde gefährdet ist.
Der Grüne Deal der EU und seine Umsetzung in europäisches Recht durch das Fit For 55-Paket (FF55) sind eine beispiellose Antwort auf die Klima- und Nachhaltigkeitskrise. Diese politischen Vorschläge der EU wurden durch REPowerEU und die zahlreichen Initiativen, die seit Beginn der Energiekrise ergriffen wurden, noch verstärkt. Die Ziele für 2030, zu denen sich die EU verpflichtet hat, sind ehrgeizig, insbesondere in Bezug auf das Klima und die Erneuerbaren Energien. Das Energieeinsparungsziel ist jedoch schwächer als die Vorschläge der Europäischen Kommission und des Parlaments, und der Ministerrat hat die Energieeffizienz-Richtlinie und die Richtlinie über die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden (EED und EPBD) – zentrale EU-Instrumente zur Bekämpfung des Energieverbrauchs und der Emissionen von Europas größtem Emissionssektor – abgeschwächt.
In seiner jetzigen Form reicht das FF55-Paket möglicherweise nicht aus, um Europa auf einen wirklich 1,5° C-kompatiblen Pfad zu bringen. In den nächsten 20 Jahren muss Europa die Treibhausgasemissionen doppelt so stark reduzieren wie in den vergangenen 30 Jahren – ganz zu schweigen von den Maßnahmen, die zur Sicherung der Energieversorgung, zur Wiederherstellung der biologischen Vielfalt und zur Bewältigung anderer Umweltprobleme erforderlich sind. Die nächsten 10 Jahre werden in dieser Hinsicht entscheidend sein.
Atomkraft und CCS keine Lösungen
Kohlenstoffarme Technologien wie die Kernkraft und die Kohlenstoffabscheidung und -speicherung (CCS) können – ganz abgesehen von den von ihnen ausgehenden Nachhaltigkeitsrisiken und ihren Kosten – nicht innerhalb des erforderlichen Zeitrahmens eingesetzt werden. Und obwohl die Erneuerbaren Energien bereits große Fortschritte machen, können sie allein die Herausforderung nicht bewältigen. Das Prinzip „Energieeffizienz zuerst“ muss noch vollständig umgesetzt werden, aber Rebound-Effekte und steigende Verbrauchstendenzen belegen, dass Effizienz allein nicht das gesamte Ressourcen-Einsparungspotenzial in Europa ausschöpfen kann. Es ist daher an der Zeit, die Suffizienz in den Vordergrund der europäischen Energie- und Klimamodellierung und -politik zu rücken. Eine Kombination aus Suffizienz, Effizienz und Erneuerbaren Energien scheint notwendig zu sein, damit Europa die beispiellosen Herausforderungen, vor denen es steht, bewältigen kann und sich auf einen Weg zu einer starken, 1,5°C-kompatiblen Resilienz begibt.
Drei Säulen: Suffizienz, Effizienz und Erneuerbare Energien
Das négaWatt-Szenario führt zu einer grossen Reduktion des Energieverbrauchs bis 2050. Es beruht auf drei Säulen:
- Suffizienz: bezeichnet eine freiwillige und systematische Vorgehensweise, die unseren Energie- und Ressourcenverbrauch kritisch hinterfragt und verändert, um gleichzeitig eine gute Lebensqualität zu gewährleisten sowie die ökologischen Grenzen der Erde zu respektieren. Dabei verringern wir unsere Treibhausgasemissionen und unseren Energieverbrauch durch eine langfristige Veränderung unserer Lebensweise, unserer kollektiven und gesellschaftlichen Organisation sowie unserer Wertvorstellungen und Massstäbe.
- Effizienz: Verringerung der Energiemenge, die zur Befriedigung eines bestimmten Bedürfnisses benötigt wird (Isolierung von Gebäuden, Verbesserung der Effizienz von Elektrogeräten oder Fahrzeugen usw.) und Verbesserung der Energieerzeugungssysteme. Die Energieeffizienz wird massgeblich durch die verwendeten Techniken bestimmt, die sich in den letzten Jahren diesbezüglich erheblich verbessert haben.
- Erneuerbare Energien: Deckung des Energiebedarfs aus Erneuerbaren Quellen.
Suffizienz, Effizienz und Erneuerbare Energien werden für die Umsetzung des Fit-for-55-Pakets und die Erreichung unserer Energie- und Klimaziele für 2030 von entscheidender Bedeutung sein – mit dem Ziel, diese Ziele zu übertreffen, um Europa auf einem wirklich Paris-kompatiblen und stark nachhaltigen Weg zu halten. Doch das Jahr 2030 steht vor der Tür, und die Investoren suchen bereits nach Sicherheit über diesen Horizont hinaus. Und zwar nicht nur die großen Energieinvestoren, sondern auch die Bauindustrie und die lokalen Behörden, die für den Bau der Infrastrukturen – vom Schienennetz bis zu den Radwegen – zuständig sind, die die Vorteile der strukturellen Suffizienz bringen werden.
Um den Wandel zu ermöglichen, müssen alle Beteiligten mobilisiert und eingebunden werden, und es bedarf konkreter Maßnahmen auf allen Ebenen der Verwaltung. Dieser Wandel sowie die notwendige Weiterentwicklung der Sozialstandards müssen gelenkt und begleitet werden.
Vom nächsten Europäischen Parlament und der Kommission wird erwartet, dass sie diese Lenkung und das Vertrauen der Investoren gewährleisten. Die internationale Gemeinschaft erwartet auch den Beitrag der EU zum UNFCCC-Prozess. Je früher die EU dem IPCC ihre THG-Ziele für 2040 mitteilt, desto besser, um eine globale Führungsrolle im Klimaschutz zu behalten.
In diesem Zusammenhang ist es von entscheidender Bedeutung, dass die EU rasch mutige Vorschläge für ein THG-Ziel für 2040 vorlegt.
Treibhausgasreduzierungen allein können jedoch weder die erforderliche Transformation und Investitionssicherheit bewirken, noch reichen sie aus, um weitere Herausforderungen wie Energiesicherheit, starke Nachhaltigkeit und Ungleichheiten zu bewältigen. Energiepolitische Zielvorgaben waren bisher für die Verwirklichung der Energiewende in Europa von entscheidender Bedeutung. Sie haben allen Regierungsebenen und Investoren das nötige Vertrauen gegeben, um den Übergang voranzutreiben, und sie bleiben auch mittel- bis langfristig unverzichtbar.
Zusammen mit dem Treibhausgasziel und unterstützt durch die richtigen sektoralen und nationalen Politiken, die auf Suffizienz, Effizienz und Erneuerbaren Energien basieren, werden die Ziele für die Reduzierung der Nachfrage und den Einsatz Erneuerbarer Energien bis 2040 entscheidend dafür sein, dass Europa seinen Übergang schafft.
In Verbindung mit einer sozial gerechten Übergangspolitik, welche die Schwächsten schützt und für mehr Gerechtigkeit zwischen und innerhalb der Länder sorgt, werden sie den Schutz der Bürger vor wachsenden Ungleichheiten und globalen Risiken verbessern. Und wenn sie ehrgeizig genug sind, können sie Europas Führungsrolle bei der Energiewende und die Rolle der EU als globaler Vorreiter beim Klimaschutz bestätigen. Suffizienz, Effizienz und Erneuerbare Energien werden für die Umsetzung des Fit-for-55-Pakets und die Erreichung unserer Energie- und Klimaziele für 2030 von entscheidender Bedeutung sein – mit dem Ziel, diese Ziele zu übertreffen, um Europa auf einem wirklich Paris-kompatiblen und stark nachhaltigen Kurs zu halten.
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