Forschende der TU Darmstadt und der ESA stellen neue Methode vor
Immer mehr künstliche Objekte umkreisen die Erde. Neben Satelliten, die für Kommunikation, Forschung oder Navigation unerlässlich sind, sind die meisten anderen unerwünscht und stellen ein Betriebsrisiko dar, denn sie erhöhen die Gefahr von Zusammenstößen. Um diese zu verhindern, werden effiziente Algorithmen benötigt, um die Objekte zu identifizieren, die sich einander gefährlich nähern. Forschende der TU Darmstadt und der Europäischen Weltraumorganisation (ESA) haben dafür zwei neue Ansätze entwickelt und am 31.07.2023 auf der TU-Webseite veröffentlicht.
1957 wurde der erste Satellit in eine Erdumlaufbahn geschickt. Seitdem folgten ihm viele weitere – bis heute insgesamt rund 16.000. Was in den Weiten des Weltraums nach wenig klingt, hat erhebliche Auswirkungen. Mit jedem gestarteten Satelliten nimmt die Zahl der Objekte im Umkreis der Erde weiter zu, und zwar nicht nur durch die Satelliten selbst, sondern auch durch vielfältige Trümmerteile, die sogenannten Raumfahrtrückstände: Teile von Trägerraketen und ausgedienten Satelliten oder andere missionsbezogene Gegenstände, wie Klemmen, Hülsen oder Bolzen, die in der Erdumlaufbahn freigesetzt wurden.
All diese Objekte bewegen sich in den Umlaufbahnen mit sehr hoher Geschwindigkeit, was in der Vergangenheit bereits vielfach zu Kollisionen geführt hat. Es droht eine Kettenreaktion: Stoßen Objekte mit Satelliten oder anderen Trümmerteilen zusammen, entstehen viele neue Trümmerteile. Diese erhöhen wiederum die Wahrscheinlichkeit für weitere Kollisionen. Selbst sehr kleine Teile können wegen ihrer hohen Geschwindigkeit an Satelliten und Raumfahrzeugen erheblichen Schaden anrichten, was die Sicherheit der Raumfahrt und generell die Nutzung des Weltraums zunehmend erschwert.
Mit Hilfe von Weltraumüberwachungssensoren werden inzwischen mehr als 30.000 Objekte in der Erdumlaufbahn verfolgt. Etwa 8.000 dieser Objekte sind einsatzfähige Satelliten, von denen etwa 2.400 allein im Jahr 2022 gestartet wurden. Mit neuen Methoden, die in den nächsten Jahren zum Einsatz kommen werden, sollen bald mehr als eine Million Objekte nachverfolgt werden können. Zusätzlich gehen Schätzungen von über 100 Millionen weiteren Objekten auf Umlaufbahnen im erdnahen Weltall aus, die zu klein sind, um sie derzeit orten zu können.
Bestimmung der Umlaufbahn aus Beobachtungsdaten
Wie lässt sich nun verhindern, dass Satelliten miteinander oder anderen Objekten kollidieren? An diesem Problem arbeiteten die Forschenden der TU Darmstadt und der ESA – und dafür benötigten sie zunächst einmal (Positions-)Daten. „Satelliten und Weltraumschrott werden vom Boden aus mit leistungsfähigen Radaren und optischen Teleskopen überwacht“, sagt Reinhold Bertrand, verantwortlich für Forschung und Entwicklung im Space Safety Programm der Europäischen Raumfahrtorganisation ESA und Kooperationsprofessor an der TU Darmstadt. „Funktionsfähige Satelliten verfügen darüber hinaus auch meist über bordgebundene Sensoren zur Positionsbestimmung und können daher noch genauere Positionsdaten zur Erde liefern. Für jedes Objekt lässt sich so aus den Beobachtungsdaten die aktuelle Umlaufbahn bestimmen.“
Daraus wiederum können rechnerisch Prognosen für die Position ein bis zwei Wochen in die Zukunft abgeleitet werden. Dabei wird geprüft, ob sich irgendwann zwei Objekte zu nahekommen und deren Kollisionsrisiko bestimmt. Dieses lässt sich umso genauer bestimmen, je näher der Zusammenstoß bevorsteht. Befindet sich ein Satellit auf Kollisionskurs mit einem anderen Satelliten oder Objekt, erfolgt eine Kollisionswarnung an den Satelliten-Betreiber, der dann ein Ausweichmanöver einleiten kann. Die Vorlaufzeit beträgt circa ein bis zwei Tage, manchmal auch nur einige Stunden. Allerdings: Sind zwei Trümmerteile auf Kollisionskurs, lässt sich ein Zusammentreffen im Moment noch nicht vermeiden.
Mehr Objekte, längerer Zeitraum
Aufgrund der steigenden Anzahl von Objekten in der Erdumlaufbahn stoßen die derzeitigen Algorithmen und Verfahren zur Erkennung von Zusammenstößen an ihre Grenzen. Die Zahl der zu überwachenden Objekte ist bereits hoch und steigt rasant, da sowohl die Zahl der Trümmerteile als auch die der Satelliten stetig wächst. Zudem werden durch verbesserte Erkennungsmethoden in Zukunft deutlich mehr Objekte als jetzt sichtbar werden, die dann alle in die Berechnungen mit einfließen müssen.
Hier kommt das Fachgebiet Parallele Programmierung der TU Darmstadt ins Spiel, das Programme für komplexe Rechenaufgaben entwickelt. „Wir standen vor zwei Herausforderungen“, sagt Professor Felix Wolf, Leiter des Fachgebiets. „Zum einen wollten wir die Positionen der Objekte für einen deutlich längeren Zeitraum simulieren, nicht nur ein bis zwei Wochen wie bisher. Zum anderen wollten wir eine größere Anzahl von Objekten berücksichtigen. Dies erforderte einen neuen und effizienten Algorithmus.“
Im Moment werden die Berechnungen zu den Umlaufbahnen aller Objekte im Weltraum paarweise durchgeführt („all-on-all“), was zu einer quadratischen Anzahl von Satellitenpaaren führt, deren Kollisionsrisiko dann nacheinander ausgeschlossen werden muss. Diese Berechnungen dauern umso länger, je mehr Objekte überprüft werden müssen und je schneller sich diese bewegen.
Um die quadratische Anzahl von Vergleichen und damit auch einen quadratischen Arbeits- und Rechenaufwand zu vermeiden, nutzten die Forschenden räumliche Datenstrukturen und Parallelisierungsmethoden, um mögliche Zusammenstöße zu identifizieren („gitterbasierte Variante“), das heißt, das Kollisionsrisiko wird nun nicht mehr nacheinander von jedem Paar von Objekten berechnet, sondern die Objekte werden in „Zellen“, die jeweils einen kleinen Teil des erdnahen Weltraums repräsentieren, eingeordnet. Dies ermöglicht es, nur noch innerhalb der Zellen und deren direkten Nachbarzellen die Objekte miteinander vergleichen zu müssen. In einem zweiten Schritt untersuchten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine hybride Methode, bei der die gitterbasierte Variante mit der klassischen kombiniert wurde.
Berechnungen auf Lichtenberg-Hochleistungsrechner
Für die Simulation kamen Daten von echten Satelliten zum Einsatz. Die notwendigen Berechnungen konnten die Forschenden auf dem Lichtenberg-Rechner der TU Darmstadt ausführen, der speziell für komplexe Berechnungen dieser Art vorgesehen ist. Dieser enthält besondere Prozessoren und Grafikkarten (GPUs), die weit leistungsfähiger sind als die handelsüblichen Gegenstücke für Endnutzer. Dies beschleunigt den Algorithmus zwar nicht von der theoretischen Betrachtung her, die tatsächliche Berechnung braucht aber trotzdem nur noch einen Bruchteil der Zeit.
>Die Forschenden konnten zeigen, dass sich die Vorhersage von drohenden Kollisionen mit den neuen Ansätzen deutlich beschleunigen lässt. Zudem ist es möglich, damit die Bewegung von mehr als einer Million Objekte in der Erdumlaufbahn zu simulieren und zu überwachen. Begrenzender Faktor für die Anzahl der zu untersuchenden Objekte ist der Speicherverbrauch bei den Berechnungen. Dieser ließe sich jedoch durch den Einsatz von mehreren Grafikprozessoren bis zu einem gewissen Grad kompensieren.
„Unsere Berechnungsmethoden ermöglichen es, alle Objekte im Weltraum, die in naher Zukunft verfolgt werden können, auf mögliche Kollisionen zu untersuchen“, fasst Wolf die Ergebnisse zusammen. „Der neue Algorithmus wird bereits exemplarisch im Rahmen einer ESA-Studie eingesetzt,“ ergänzt Bertrand. Die beiden Professoren sind sich einig: „Die Sicherheit im Weltraum wird damit erhöht.“
->Quelle und weitere Informationen:
- tu-darmstadt.de/einzelansicht_417856.de
- Originalveröffentlichung: Christian Hellwig, Fabian Czappa, Martin Michel, Reinhold Bertrand, Felix Wolf: Satellite Collision Detection using Spatial Data Structures, in: Proc. of the 37th IEEE International Parallel and Distributed Processing Symposium (IPDPS), St. Petersburg, Florida, USA, pages 724–735, May 2023 – tu-darmstadt.de/universitaet/aktuelles_meldungen/einzelansicht_417856.de