Schöne neue Wasserstoffwelt

Europaweites Wasserstoffnetz unerlässlich

Eine im Juni erschiene Analyse des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung ISI im Auftrag der Generaldirektion Energie der EU-Kommissionsoll tiefere Einblicke in mögliche Wege zur Dekarbonisierung der Industrie, den daraus resultierenden Energiebedarf und die Auswirkungen auf das gesamte europäische Energiesystem gewinnen helfen. Die Untersuchung hält die Wasser-Elektrolyse zur Produktion von Wasserstoff in Deutschland aus Sicht der Frankfurter Rundschau für unwirtschaftlich und rüttelt an gleich drei Grundüberzeugungen der geplanten Wasserstoffwelt.

METIS 3, Studie S5 Die Auswirkungen des industriellen Wandels auf ein CO2-neutrales europäisches Energiesystem – © – Directorate-General for Energy (European Commission),  Fraunhofer Institute for Systems and Innovation Research

In Europa sind etwa 20 % der gesamten Treibhausgasemissionen (THG) auf den Industriesektor zurückzuführen. Die Hauptverursacher der Treibhausgasemissionen innerhalb des Industriesektors sind mit der Produktion von Grundstoffen in Sektoren wie Stahl, Zement und Chemie verbunden. Obwohl dieser Sektor lange Zeit als „schwer einzudämmen“ galt, besteht mittlerweile ein wachsender Konsens darüber, dass die Industrie durch die Umstellung auf neue CO2-arme Produktionswege und -technologien erhebliche Potenziale zur Treibhausgasreduzierung birgt.Dazu gehören die direkte Nutzung von Strom aus erneuerbaren Quellen oder dessen indirekte Nutzung durch Wasserstoff oder synthetisches Methan, aber auch Kohlenstoffabscheidung und -speicherung, verbesserte Energieeffizienz oder eine stärkere Einführung der Kreislaufwirtschaft und materialeffizienter Wertschöpfungsketten.

Die 2018 veröffentlichte Langzeitstrategie der EU „Ein sauberer Planet für alle“ skizziert die Vision der Klimaneutralität in der EU und erkundet konkrete Übergangspfade für die gesamte Wirtschaft.Es zeigt, dass der Industriesektor in der EU durch die vollständige Nutzung der verfügbaren Minderungsoptionen bis 2050 eine Dekarbonisierung um bis zu 95 % im Vergleich zu 19901 erreichen kann. In der begleitenden Arbeitsunterlage der Kommission werden alternative Dekarbonisierungspfade und Ambitionsniveaus untersucht. Darunter ist ein 95-prozentiges Reduktionsszenario für den Industriesektor, das eine Verdreifachung des Strombedarfs im Industriesektor von heute etwa 1000 TWh auf etwa 3000 TWh im Jahr 2050 zeigt. Das impliziert tiefgreifende Veränderungen sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite und starke Wechselwirkungen zwischen Industriesektor und Energiesystem.

Mit dem Green Deal hat sich die EU das ehrgeizige Ziel gesetzt, bis 2050 der erste klimaneutrale Kontinent zu werden. Das Fit-for-55-Paket und der RePowerEU-Plan bilden den Rahmen für die Umsetzung mehrerer Instrumente und Maßnahmen zur Erreichung dieses Ziels. Eine tiefgreifende Dekarbonisierung der EU-Industrie ist ohne Deindustrialisierung möglich, obwohl noch immer darüber debattiert wird, welchen technologischen Weg die Industrie einschlagen wird und sollte.

Bei allen tiefgreifenden Dekarbonisierungspfaden spielt jedoch die Sektorenkopplung eine sehr wichtige Rolle, da fossile Brennstoffe durch große Mengen CO2-neutraler Sekundärenergieträger wie Strom, Wasserstoff oder synthetische Kraftstoffe ersetzt werden. Um Transformationspfade umfassend bewerten zu können, ist daher eine Gesamtsystemperspektive erforderlich. Gleichzeitig werden sich die Transformationspfade in den verschiedenen Teilsektoren der Grundstoffindustrie unterscheiden. Jeder Teilsektor nutzt spezifische Produktionsprozesse und verfügt daher über unterschiedliche Potenziale und Grenzen für den Einsatz CO2-neutraler Technologien.

Einige Produktionsprozesse erfordern umfangreiche Neuinvestitionen, während für andere eine Nachrüstung möglich sein wird. Darüber hinaus dürfte der industrielle Wandel aufgrund des Einflusses standortspezifischer Merkmale wie Potenziale erneuerbarer Energiequellen (RES) und Infrastrukturverfügbarkeit zwischen verschiedenen Regionen erheblich variieren. Daher muss eine Methodik zur Modellierung des Übergangs des Industriesektors das Energiesystem, die Industriestrukturen und die teilsektorspezifischen Produktionsprozesse mit ihren jeweiligen technologischen Einschränkungen berücksichtigen. Vor diesem Hintergrund analysiert die Studie zwei wesentliche Minderungspfade – die Elektrifizierung und den Wasserstoffpfad – und bewertet ihre möglichen Auswirkungen auf das Energiesystem. Die Studie verwendet ein EU-weites Energiesystemmodell zusammen mit einem speziellen Branchensimulationsmodell, um sowohl die Auswirkungen auf das Energiesystem als auch die branchenspezifischen Potenziale und Einschränkungen für den Übergang zu erfassen.

Die Untersuchung kommt zu folgenden Schlussfolgerungen:

  1. Der massiv steigende Bedarf an Strom und Wasserstoff prägt das Energiesystem. Während der Gesamtenergiebedarf aufgrund von Effizienzsteigerungen in Gebäuden und Verkehr von rund 13.100 TWh im Jahr 2019 auf rund 10.000 TWh im Jahr 2050 sinkt, steigt die Nachfrage nach Strom und Wasserstoff erheblich. Ausgehend von 2.876 TWh im Jahr 2019 steigt der Strom auf 4.232 TWh (H2+) und 4.556 TWh (Elec+).Der Wasserstoffbedarf steigt bis 2050 auf 3.035 (Elec+) und 3.488 TWh (H2+). Zusammen machen diese beiden Energieträger bis 2050 fast 80 % des gesamten Energiebedarfs aus.
  2. Aus technoökonomischer Sicht haben erneuerbare Energiequellen das Potenzial, den Energiebedarf Europas zu wettbewerbsfähigen Kosten zu decken (mit Ausnahme einiger importierter synthetischer Brennstoffe).Solar- und Windpotenziale werden massiv genutzt und ermöglichen in diesem kostenoptimierten System eine vollständig inländische Produktion von Wasserstoff und Strom.Bis 2050 machen Wind- und Solarenergie zusammen fast 80 % der heimischen Stromproduktion in der EU aus, die sich auf insgesamt 9.100 (Elec+) und 9.410 (H2+) TWh beläuft.Allein Wind liefert zwischen 4810 TWh (Elec+) und 5.050 TWh (H2+).
  3. Die inländische Wasserstoffproduktion ist zu geringeren Kosten verfügbar als für H2-Importe angenommen;Wasserstoffimporte über Pipelines aus der MENA-Region werden nur dann kostenwettbewerbsfähig, wenn der Einsatz erneuerbarer Energien suboptimal/eingeschränkt ist.In den beiden Hauptszenarien H2+ und Elec+ sind Wasserstoffimporte nicht Teil des kostenoptimalen Systems.Wenn die EE-Potenziale in jedem Land auf 70 % ihres ursprünglichen Werts begrenzt werden, steigen die inländischen Wasserstoffproduktionskosten um 11 % und Wasserstoffimporte aus Nicht-EU-Ländern in Segmente mit den niedrigsten Kosten werden Teil der kostenoptimalen Lösung.
  4. Wasserstoff, der in verschiedenen EU-Ländern mit hohem EE-Potenzial durch großtechnische erneuerbare Energien erzeugt wird, wird über das europäische Wasserstofftransportsystem zu mitteleuropäischen Industrieclustern transportiert.In einem kostenoptimalen System werden EE-Kapazitäten strategisch in Regionen mit hohen Lastfaktoren platziert und die erzeugte Energie dann zu den Nachfragezentren in Mittel- und Nordwesteuropa transportiert.Elektrolyseure werden in der Nähe dieser erneuerbaren Energieerzeugungszentren gebaut und Wasserstoff wird zu den Nachfragezentren transportiert.Die Szenarien zeigen, dass die Elektrolyseurkapazitäten in Ländern wie Deutschland, Belgien, der Tschechischen Republik und den Niederlanden sehr begrenzt bis praktisch Null sind.Dies wird auch durch die Tatsache bestätigt, dass es im H2+-Szenario im Vergleich zum Elec+-Szenario nur einen leichten Anstieg der heimischen EE-Erzeugung gibt (ca. +300 TWh).Der stärkere Einsatz von Wasserstoff im H2+-Szenario ermöglicht einen besseren Energietransport über große Entfernungen und damit eine bessere Nutzung der kostengünstigsten EE-Potenziale.
  5. Ein europaweites Wasserstoffnetz ist unerlässlich: Die Ergebnisse zeigen, dass robuste Wasserstoffkorridore die nordischen Länder, das Baltikum, das Vereinigte Königreich, die Iberische Halbinsel und Frankreich mit Deutschland, den Benelux-Ländern, Österreich und Italien verbinden.Selbst bei geringer inländischer Industrienachfrage oder begrenzten EE-Potenzialen bleiben diese Wasserstofftransportkorridore Teil der kostenoptimalen Lösung.Sie werden eher durch unterschiedliche Potenziale und Kosten für die Erzeugung erneuerbarer Energien als durch die hohe Nachfrage seitens der Industrie bestimmt.

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