Blick der Bertelsmann Stiftung auf die Industriestrategie des BMWK
Am 24. Oktober hat Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck seine Überlegungen zu einer zukunftsfähigen Industriestrategie vorgelegt (BMWK – Habeck legt Industriestrategie vor – Industriepolitik in der Zeitenwende). Viele der dort angesprochenen Themen behandle die Bertelsmann Stiftung in ihren Projektaktivitäten seit knapp zwei Jahren, heißt es in einer Pressemitteilung vom 03.11.2023.
In der folgenden Stellungnahme, die Solarify im Wortlaut wiedergibt, wird auf zentrale, nach Ansicht der Bertelsmann Stiftung richtige Akzente in Habecks Strategiepapier und auf notwendige Nachbesserungs- und stärkere Handlungsbedarfe eingegangen.
#1: Klimaneutrale Erneuerung als zentrale Herausforderung
In dem Strategiepapier wird die Transformation zur Klimaneutralität als eine zentrale Herausforderung identifiziert. Das allein ist noch keine revolutionäre Erkenntnis. Wichtig ist der Hinweis, dass Deutschland relativ zum Jahr 1990 seine Industrieemissionen um 41 Prozent senken konnte und gleichzeitig die Bruttowertschöpfung des Verarbeitenden Gewerbes um rund 80 Prozent steigern konnte. Fazit des Strategiepapiers: „Die Industrie kann auch zukünftig wachsen, sofern die Emissionsintensität hinreichend sinkt“ (Seite 21).
Das ist auch unser Ansatz: Ziel der Gesamtwirtschaft – also nicht nur der Industrie – sollte es sein, die Wirtschaftsleistung soweit wie möglich von Ressourcenverbrauch und Treibhausgasemissionen zu entkoppeln, sodass Deutschland bis 2045 die Klimaneutralität erreicht und das reale Bruttoinlandsprodukt weiterhin wachsen kann (Transforming Economies | Wirtschaftswachstum oder -schrumpfung? Eine Frage der Entkopplung – Transforming Economies (transforming-economies.de)).
Leider reichen die bisherigen Anstrengungen Deutschlands keinesfalls aus, um dieses anspruchsvolle Ziel zu erreichen. Wenn wir im bisherigen Tempo bei der Reduktion unserer Emissionsintensität weiter machen, könnten wir die Klimaneutralität 2045 nur mit erheblichen Wohlstandseinbußen erreichen. Wir müssen also nicht nur die Umsetzungslücke schließen, sondern auch auf eine hinreichende Entkopplung hinarbeiten. (Policy Brief 2023 | 11: Anspruch und Wirklichkeit der deutschen Klimapolitik – Wie steht es um die Klimaziele? (bertelsmann-stiftung.de))).
#2: CO2-Bepreisung als zentrales Klimaschutzinstrument
Marktwirtschaftliche Instrumente wie die CO2-Bepreisung im Rahmen des europäischen Emissionshandels sind ein zentrales Element zur Erreichung der Klimaneutralität (Policy Brief #2021/02: CO2 braucht einen Preis – mit einer wirtschaftspolitischen Flankierung (bertelsmann-stiftung.de)). Und um eine Verlagerung emissionsintensiver wirtschaftlicher Aktivitäten in Länder mit geringen oder gar keinen CO2-Preisen – also das Carbon Leakage – zu verhindern, ist eine außenwirtschaftliche Flankierung erforderlich, z. B. durch den „Carbon Border Adjustment Mechanism“, kurz CBAM (Policy Brief 2022 | 04: Zwischen Klimaschutz und Industrieerhalt – Was kann der CBAM leisten? (bertelsmann-stiftung.de)).
Die Befürwortung beider Instrumente in dem Strategiepapier (siehe Seite 27 und 50 f.) ist daher zu begrüßen.
Was in dem Papier jedoch fehlt, ist die dringende Notwendigkeit des Abbaus klima- und umweltschädlicher Subventionen, die zeitgleich das Festhalten am Einsatz fossiler Energieträger fördern. Ihr jährliches Volumen dürfte in Deutschland bei mindestens 65 Milliarden Euro liegen (Transforming Economies | Subventionspolitik: Wie Definitionsprobleme den Klimaschutz behindern – Transforming Economies (transforming-economies.de). Die damit verbundene Verbilligung klimaschädlicher Technologien und Produkte hemmt und verteuert die zwingend erforderliche ökologische Transformation.
#3: Klimaneutrale Transformation braucht klimafreundliche Subventionen
Die mit einer CO2-Bepreisung verbundenen Anreize zur Förderung klimaneutraler Technologien und Produkte reichen nicht aus, um die Unternehmen schnell zur Entwicklung und Nutzung dieser Technologien und Produkte zu motivieren.
Die in den Industriestrategie angesprochenen Klimaschutzverträge (Seite 27 und 51 f.) sind in diesem Kontext ein sinnvolles Instrument. So wird beispielsweise eine klimaneutrale Grundstoffindustrie ohne staatliche Subventionen nicht möglich sein (Transforming Economies | Klimaschutz und Industrieerhalt: Wie gelingt der Spagat in der Grundstoffindustrie? – Transforming Economies (transforming-economies.de)
Offen ist jedoch, wie das Papier feststellt, die mittel- und langfristige Finanzierung dieser staatlichen Unterstützung. Die Reform bestehender umweltschädlicher Subventionen lässt zusätzliche Mittel freiwerden, die im Rahmen der Klimaschutzverträge klimapositiv eingesetzt werden können.
Wichtig ist zudem, dass eine flächendeckende Förderung durch Subventionszahlungen und Steuergutschriften vermieden werden sollte. Stattdessen sind gezielte Maßnahmen zu ergreifen, die zukunftsträchtige Bereiche mit positiven Effekten für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung und Resilienz fördern. Solche Schlüsselproduktionen und -technologien exakt zu identifizieren ist keine leichte Aufgabe. Eine Förderung nach dem Gießkannenprinzip zur Konservierung alter Strukturen wäre aber kaum zu legitimieren und zu finanzieren.
#4: Weltweite grüne Subventionen setzen Deutschland und EU unter Druck
Die USA unterstützen die ökologische Transformation ihrer Wirtschaft mit massiven Subventionen, zu denen neben Transferzahlungen auch Steuererleichterungen zählen. Dies ist grundsätzlich zu begrüßen, denn so wird der weltweite Klimaschutz gefördert. Zudem können die Kosten der ökologischen Transformation Deutschlands reduziert werden, wenn preiswertere grüne Technologien aus den USA importiert werden.
Wenn große Volkswirtschaften wie die USA, aber auch China in großem Umfang Subventionen einsetzen, kann das die deutsche Volkswirtschaft jedoch auch erheblich unter Druck setzen. Das größte Risiko besteht unserer Einschätzung nach aus einem möglichen Kapitalabzug aus Deutschland und der EU insgesamt, den es zu verhindern gilt (Der Inflation Reduction Act und seine Folgen für die deutsche Wirtschaft – Risiken, Potenziale und Handlungsbedarfe (bertelsmann-stiftung.de)).
Um dem entgegenzuwirken, sind letztendlich auch Lösungen auf EU-Ebene erforderlich. Welche Rolle Deutschland bei deren Ausgestaltung spielen kann und will, wird in dem Papier nicht deutlich.
Industriepolitische Alleingänge Deutschlands, die andere EU-Länder wirtschaftlich unter Druck setzen und ein weiteres Auseinanderdriften der EU mit sich brächten, sollten in jedem Fall vermieden werden.
#5: Stärkung der Circular Economy
Das Papier weist an verschiedenen Stellen auf den Ausbau der Kreislaufwirtschaft hin (z. B. S. 47 bis 49). Die Formulierungen weisen jedoch drauf hin, dass dieses Konzept relativ eng verstanden wird und sich stark auf die Aspekte des Recyclings bezieht, also die Rückgewinnung und Wiederverwertung von Rohstoffen.
Wichtig ist aus unserer Sicht ein umfassenderes Verständnis zirkulärer Wertschöpfung, nämlich das der „Circular Economy“. Dieses Konzept geht über die Wieder- und Weiterverwendung von Rohstoffen und Einzelteilen hinaus. Zur Circular Economy gehören auch eine Erhöhung der Lebensdauer von Produkten (z. B. durch eine Intensivierung von Reparaturarbeiten) und das stärkere Teilen (z. B. durch das Prinzip der „Sharing Economy“, bei der mehrere Personen gemeinsam ein Produkt nutzen und nicht jede Person ein eigenes besitzt) (Transforming Economies | Circular Economy: Ein Schlüssel für eine Nachhaltige Soziale Marktwirtschaft? – Transforming Economies (transforming-economies.de)).
Spürbare Einsparungen beim Ressourcenverbrauch lassen sich – auch angesichts der perspektivisch stark steigenden Rohstoffbedarfe im Bereich der grünen Technologien – letztendlich nur bei einem derart breiten Verständnis einer Circular Economy erzielen (Vorlage_Policy Brief_InfoPapier (bertelsmann-stiftung.de)).
#6: Rohstoffpolitik und Diversifizierungsstrategie in Zeiten wachsender geopolitischer Konflikte
Die Corona-Pandemie, der russische Angriffskrieg in der Ukraine sowie geopolitischen Spannungen haben uns deutlich vor Augen geführt, wie hoch die deutsche Importabhängigkeit bei bestimmten Produkten, Energieträgern und Rohstoffen, ist. Der Hinweis des Industriepapiers auf die Notwendigkeit, kritische Abhängigkeiten von Zuliefererländern zu reduzieren, ist daher absolut zutreffend. Diversifizierungsstrategien bei der Wahl der Handelspartner und neue EU-Handelsabkommen sind geeignete Maßnahmen.
Allerdings bleibt die Gefahr eines sogenannten „Klumpenrisikos“ im Bereich der Importbeziehungen: Wenn es betriebswirtschaftlich sinnvoll ist, einen bestimmten Rohstoff aus einem bestimmten Land zu beziehen, weil dieses weltweit den geringsten Preis fordert, werden sich die einzelnen Käufer:innen auf dieses Land konzentrieren. Ohne eine staatliche Intervention können diese einzelwirtschaftlich rationalen Entscheidungen dann zu einer gesamtwirtschaftlich kritischen Importabhängigkeit führen.
Einen möglichen Ansatz zur Vermeidung dieser außenwirtschaftlichen Klumpenrisiken könnten maximale Importquoten aus bestimmten Ländern bieten. Die dafür erforderlichen Importlizenzen könnten im Rahmen einer Versteigerung zugeteilt werden (Transforming Economies | Außenwirtschaftliches Gleichgewicht: Handelspolitik im Zeichen der Internalisierung externer Effekte – Transforming Economies (transforming-economies.de).
#7: Investitionen anreizen und finanzieren
Die ökologische Transformation wird enorme Investitionen erfordern, die zum allergrößten Teil von der Privatwirtschaft finanziert werden müssen. Staatliche Unterstützungen, z. B. in Form von steuerlichen Anreizen und zinsverbilligten Krediten (S. 38 f.) sind daher zu begrüßen. Das Wachstumschancengesetz geht hier in die richtige Richtung, sollte aber deutlich größer dimensioniert werden.
Allerdings gibt es eine weitere Herausforderung: Es ist davon auszugehen, dass der voranschreitende Klimawandel und die zwingend notwendige ökologische Transformation – neben Deglobalisierungstendenzen und der weltweiten Bevölkerungsalterung –dazu führen, dass uns auch in Zukunft reale Knappheiten und damit Inflationsdruck begleiten werden (Megatrend-Report #4: Die Rückkehr der Knappheit (bertelsmann-stiftung.de)).
Dieser Inflationsdruck stellt die Europäische Zentralbank (EZB) vor ein Dilemma: Sie muss ihren Leitzins auf einem hohen Niveau halten, was dann aber die Finanzierung der notwendigen Investitionen für die Umsetzung der ökologischen Transformation erschwert. Ein Lösungsansatz könnte darin bestehen, dass die EZB weiterhin mit hohen Zinsen auf eine erhöhte Inflation reagiert, aber gleichzeitig für klimafreundliche Investitionen niedrigere Zinssätze anwendet (Transforming Economies | Geldpolitik in der Klimakrise: Was Zentralbanken tun können und tun sollten – Transforming Economies (transforming-economies.de)).
Zum Schluss #8: Europäische Zusammenarbeit stärken
Zwar weist die Industriestrategie explizit auf die europäische Bedeutung etwa in puncto Wirtschaftssicherheit und -zusammenarbeit hin, doch die Feststellung mangelnder Voraussetzungen auf EU-Ebene, an denen „wir arbeiten sollten“ (S. 24/25), klingt wenig ambitioniert. Eine stärkere europäische Koordination und Finanzierung industriepolitischer Ziele, Ansätze und (Finanzierung)Instrumente kann allerdings kaum genug betont und politisch auch durch Deutschland viel stärker forciert werden. Nicht nur um den Binnenmarkt vor Wettbewerbsverzerrungen nationalstaatlicher Alleingänge zu schützen, sondern weil allein durch die Stärkung des gemeinsamen Marktes auch langfristig ein Gegengewicht zu den globalen Konkurrenten im grünen Standortwettbewerb erhalten bleiben kann. Das gilt im Hinblick auf technologische Entwicklung- und Souveränitätsziele ebenso wie für die Resilienz gegenüber kritischen Importabhängigkeiten oder die länderübergreifende Schaffung grüner Leitmärkte und Energieinfrastrukturen.
Hinweis: Überlegungen zu den Herausforderungen und Lösungsansätzen für die deutsche Wirtschaftspolitik im Kontext des grünen Standortwettbewerbs finden Sie im aktuellen Megatrend-Report #5: Der grüne Standortwettbewerb (bertelsmann-stiftung.de)