Langfristige Wettbewerbsfähigkeit, Planbarkeit und soziale Abfederung: Wege zur Klima- neutralität der europäischen Industrie

Forderungspapier zur europäischen Industriepolitik – Kreislaufwirtschaft

Die europäische Industrie spielt eine zentrale Rolle im Ziel der EU, bis 2050 die erste klimaneutrale Staatengemeinschaft zu werden. Aktuell verursacht sie jedoch noch 20 Prozent der Treibhausgasemissionen. Trotz temporärer Reduktionen durch wirtschaftliche Einbrüche fehlt es an strukturellen Maßnahmen und Investitionssicherheit für eine nachhaltige Emissionsminderung. Um dies zu ändern, fordern die zeichnenden Organisationen eine europäische Industriestrategie als Teil des European Green Deals. Zu den Autoren gehören neben Germanwatch der Deutsche Naturschutzring, BUND, Deutsche Umwelthilfe, NABU, WWF, Runder Tisch Reparatur und natureplus.

Klima-Demo in Berlin 2021 – Foto © Gerhard Hofmann, Agentur Zukunft, für Solarify

Kernpunkte der Forderungen sind eine ressourcenschonende Kreislaufwirtschaft mit einem europäischen Ressourcenschutzgesetz, eine ausreichend und langfristig aufgestelltes Finanzierungsmodell sowie die Förderung von Unternehmenstransformation und klimafreundlicher Beschäftigung. Nur so kann die europäische Industrie langfristig wettbewerbsfähig bleiben und einen internationalen Beitrag zu einer sozial gerechten Transformation leisten.

Am 19.07.2024 stellte die neue alte Kommissionspräsident Ursula von der Leyen ihre politischen Leitlinien für eine weitere Amtszeit vor (EU-News vom 19.07.). Ein Ziele ihrer Politik: Die Dekarbonisierung und das industrielle Wachstum vorantreiben. Innerhalb der ersten 100 Tage ihres Mandats will von der Leyen einen Clean Industrial Deal vorstellen, der Klimaschutz in die EU-Industriepolitik integriert. Mit diesem Versprechen sendete sie auch deutliche Signale an die Grünen. Dass deren Prioritäten berücksichtigt würden, brachte von der Leyen letztendlich die ausschlaggebenden Stimmen für ihre Wiederwahl ein.

Die Europäische Union hat es sich zum Ziel gesetzt, spätestens bis zum Jahr 2050 die weltweit erste klimaneutrale Staatengemeinschaft zu werden. Die europäische Industrie ist für das Erreichen dieses Ziels ein entscheidender Hebel, sie trägt bislang jedoch noch nicht genug zu der nötigen Emissionsreduktion bei. 2022 lag ihr Emissionsausstoß bei rund 20 Prozent der europäischen Treibhausgasemissionen. Zwar konnten in den letzten Jahren zeitweise Emissionsreduktionen der Industrie beobachtet werden, diese sind jedoch überwiegend auf Produktionseinbußen durch konjunkturelle Entwicklungen wie die Corona-Pandemie oder die Energiepreiskrise zurückzuführen und sind weitestgehend nicht strukturell bedingt. Die Anreize für die Emissionsreduktion industrieller Prozesse, insbesondere in energieintensiven Industrien, sind noch nicht ausreichend und es fehlt an der nötigen Planungs- und Investitionssicherheit. Dennoch bekennt sich die europäische Industrie zum Ziel der Klimaneutralität 2050 und begibt sich allmählich auf den Weg dorthin.

Damit die Geschwindigkeit der Transformation mit den gesetzlichen Zielen übereinstimmt, braucht die europäische Industrie einen klaren Rechtsrahmen für eine Dekarbonisierung, die in Einklang mit den planetaren Grenzen und dem Anspruch an hohe soziale Standards steht. Dieses Vorhaben bietet enorme Chancen, die Wertschöpfung und den Lebensstandard in Europa zu erhalten und einen internationalen Beitrag zu einer demokratischen und sozial gerechten Transformation zu leisten.

Als deutsche Umweltschutzorganisationen fordern wir die Entwicklung einer europäischen Industriestrategie als Teil des European Green Deals mit folgenden Kernpunkten:

1. Ressourcenschonende Kreislaufwirtschaft im Zentrum einer europäischen Industriestrategie

Für die Dekarbonisierung des Industriesektors findet eine auf Vermeidung und Wiederverwendung ausgerichtete schadstofffreie Kreislaufwirtschaft als wesentlicher Ansatz bisher wenig Beachtung. Zentrale Hebel wie die Verringerung des Ressourcenverbrauchs, insbesondere durch die Kreislaufführung von Produkten in ressourcen- und energiesparsamen Systemen sowie die Verbesserung der Materialeffizienz und -nutzung, wurden bisher vernachlässigt. Ähnlich ist es mit der Verringerung der chemischen Komplexität und Schadstofffreiheit, sodass Materialien in unterschiedlichen Kontexten wiederverwertet werden können. Neben einem erheblichen Emissionsreduktionspotential bieten diese Kreislaufwirtschaftsstrategien zusätzliche Vorteile: Sie sorgen für Kosteneinsparungen durch einen reduzierten Verbrauch von Rohstoffen und Energie, tragen zu widerstandsfähigeren Lieferketten bei, bieten sozial gerechte Lösungen durch arbeits- und wertschöpfungsintensive Ansätze und schaffen regionale Arbeitsplätze. In Zeiten zunehmender geopolitischer Spannungen – auch im Wettbewerb um Ressourcen – leistet das zirkuläre Wirtschaften einen wichtigen Beitrag zur Resilienz in Europa. Eine europäische Industriestrategie sollte daher den Rahmen für einen systematischen, organisierten und sozial gerechten Wandel setzen, der eine ressourcenschonende Produktions- und Lebensweise gesamtgesellschaftlich ermöglicht und gesellschaftliche Bedürfnisse mit einem minimalen Material- und Energieeinsatz erfüllt.

Dafür braucht es:

  • Ein europäisches Ressourcenschutzgesetz: Europa braucht ein EU-weites Ressourcenschutzgesetz mit verbindlichen quantitativen Reduktionszielen nach dem Vorbild des EU-Klimaschutzgesetzes. Für die Schaffung einer echten Kreislaufwirtschaft ist es entscheidend, transformationsfördernde und effektive Instrumente wie Umweltsteuern, Ordnungsrecht und Subventionsabbau einzusetzen. Ressourcenschutzziele, beispielsweise zur Reduktion des absoluten Rohstoffkonsums, führen zur Priorisierung solcher Instrumente. Ein Ressourcenschutzgesetz sollte neben den verbindlichen Zielen auch Reduktionspfade sowie Regeln für die Überwachung, Überprüfung und Berichterstattung (sog. MRV-Ansatz) der Ziele festlegen.
  • Die konsequente Umsetzung der Kreislaufwirtschaftsgrundsätze: Wird Kreislaufwirtschaft im Kontext der Industrietransformation betrachtet, so beschränkt sich dies meist auf Recycling oder Abfallverbrennung. Die energie- und ressourcenschonenderen Strategien sind jedoch Vermeidung, Reduzierung und Wiederverwendung von Materialien und Produkten. Dafür ist die konsequente Umsetzung der EU-Abfallhierarchie von entscheidender Bedeutung. Vermeidung und Wiederverwendung zur Minimierung von Ressourcenverbrauch und Abfällen müssen oberste Priorität haben. Hierfür sind klare Ressourcenschutz-, Abfallvermeidungs- und Wiederverwendungsziele, auch im gewerblichen und industriellen Bereich, erforderlich. Weiterhin ist eine schnelle Überarbeitung der EU-Abfallrahmenrichtlinie (WFD) nötig, um mit strengeren Vorgaben irreführende Quotenberechnungen zu verhindern.
  • Eine nachhaltige Produktpolitik: Produkte und Materialien müssen so konzipiert werden, dass sie sowohl in ihrer Produktion, in ihrer Nutzung und der Entsorgung umweltfreundlich, schadstofffrei, haltbar, reparierbar und recyclingfähig sind. Mit der Ökodesign-Verordnung (ESPR) hat die EU hierfür den Grundbaustein gelegt. Jetzt müssen die Anforderungen für alle Produktgruppen über delegierte Rechtsakte ausformuliert und schnellstmöglich umgesetzt werden. Neben dem EU-Batteriepass müssen auch andere Produktarten mit digitalen Produktpässen verpflichtend ausgestatten werden, um Umweltauswirkungen entlang des Produktlebenszyklus’ sichtbar zu machen. Ergänzend muss der Ansatz der Wiederverwendung durch ressourcenschonende Dienstleistungen, wie das Recht auf kostengünstige, herstellerunabhängige und qualitativ hochwertige Strukturen für Reparatur, Leihen und Second-Hand auf den industriellen Maßstab gehoben werden.

2. Ein Finanzierungsmodell für die Industrietransformation

Der Wandel zur Klimaneutralität muss als Chance begriffen – auch im wirtschaftlichen Sinne – und
als solche finanziert werden. Die langfristige Wettbewerbsfähigkeit und Attraktivität Europas als Industriestandort abzusichern, gelingt nur mit einer nachhaltigen und soliden Klima- und Transformationsförderung. Dadurch wird einerseits die Sicherheit für dringend notwenige Investitionsentscheidungen geschaffen und der Industrie ermöglicht, sich planbar an den langfristigen Klimazielen auszurichten. Andererseits wird ein gerechtes Wettbewerbsumfeld für diejenigen Unternehmen geschaffen, welche bereits den Weg der Klimaneutralität eingeschlagen haben und durch die Beibehaltung umweltschädlicher Subventionen starken Wettbewerbsnachteilen unterliegen. Hierbei ist es die gemeinsame Aufgabe der Industrie sowie öffentlicher und privater Finanzen, die Weichen für wirtschaftliche und risikoarme Investitionen zu stellen.

Dafür braucht es:

  • Eine konsequente Umsetzung des Europäischen Emissionshandels (Emissions Trading System, ETS):
    Das derzeitige CO2-Preisniveau des ETS reicht nicht aus, um die Dekarbonisierung voranzutreiben und Industrieinvestitionen zu beschleunigen. Bisher hat der ETS als europäisches Leitinstrument zur Reduktion der CO2-Emissionen nicht seine Wirkung entfaltet. Für ein wirksames Preissignal muss das Verursacherprinzip konsequent angewandt werden, indem die Zuteilung kostenloser Zertifikate abgeschafft und der Übergang zu einer vollständigen Versteigerung von Zertifikaten vollzogen wird. Im Rahmen der Überprüfung des EU-Grenzausgleichs (CBAM) sollte die Europäische Kommission einen Vorschlag zum schnelleren Auslaufen der kostenlosen Zuteilung von Zertifikaten vorlegen. Durch die Verschärfung von Berichtspflichten für Mitgliedstaaten müssen Rechenschaftspflichten und die Transparenz über die Verwendung der ETS-Einnahmen in Klimaschutzmaßnahmen sichergestellt werden.
  • Die Schaffung grüner Leitmärkte: Um die Nachfrage nach emissionsarmen und zirkulären Produkten zu fördern sind grüne Leitmärkte erforderlich. Die öffentliche Beschaffung hat diesbezüglich eine Vorreiterrolle, die aktuell nicht ausgefüllt wird. Dabei kann das Einkaufsvolumen der öffentlichen Hand mit rund 14 Prozent des europäischen Bruttoinlandsprodukts4 richtungsweisend für eine zirkuläre und grüne Wirtschaft sein, sofern das Kriterium einer ohne Berücksichtigung der sozialen Kosten kalkulierten Wirtschaftlichkeit nicht mehr überwiegt. Die Schaffung grüner Leitmärkte ermöglicht eine starke Signalwirkung sowie Planungssicherheit für Unternehmen und setzt damit einen Anreiz für den Ausbau strategischer klimafreundlicher Technologien und Kreislaufwirtschaftsstrategien. Die Lern- und Skaleneffekte der Unternehmen durch die vermehrten Aufträge haben außerdem das Potenzial, die Kosten für zirkuläre und grüne Lösungen zu senken. Rechtliche Grundlagen zur Umsetzung der Grünen Öffentlichen Beschaffung (GPP) sind auf europäischer Ebene geschaffen worden, etwa in der Ökodesign-Verordnung (ESPR) oder der Bauprodukteverordnung (CPR). Für die private Nachfrage eignen sich Zertifikate mit Mindestanforderungen und Treibhausgasgrenzwerten, Recyclingquoten oder eine Klima- und Ressourcenabgabe.
  • Europäische Klimaschutzverträge (Carbon Contracts for Difference, CCfDs): Inspiriert vom deutschen Modell der Klimaschutzverträge sind europaweite CCfDs erforderlich, um die Mehrkosten einer klimafreundlichen Produktion über einen definierten Zeitraum zu kompensieren, bis diese wirtschaftlich rentabel wird. Dies würde Unternehmen gegen einige Transitionsrisiken absichern, beispielsweise gegen eine unsichere Entwicklung zukünftiger Inputpreise oder politischer Entscheidungen, und ihnen langfristige Vorhersehbarkeit und Sicherheit bei Investitionen ermöglichen. Dabei sollten CCfDs nur an solche Technologien vergeben werden, welche transformativ wirken und den Weg aus der fossilen Abhängigkeit Europas ebnen. Eine Finanzierung von europäischen Klimaschutzverträgen sollte durch eine Aufstockung des Just Transition Funds und europäischen Eigenmitteln geschehen. Ein solidarischer Ausgleichsmechanismus zwischen den Mitgliedstaaten muss verhindern, dass sich nur die wirtschaftlich stärkeren Staaten die Transformation leisten können.
  • Die Integration des europäischen Strommarktes: Einer der zentralen Hebel für die Dekarbonisierung der Industrie ist die Elektrifizierung von Prozessen. Dafür ist eine ausreichende und sichere Stromversorgung zu wettbewerbsfähigen Preisen entscheidend. Die EU sollte dafür die Integration des europäischen Strommarktes vorantreiben und den Mitgliedsländern den notwendigen Spielraum für die gezielte Gestaltung von Strompreisen zur Förderung von Elektrifizierung ermöglichen.
  • Die Mobilisierung privater Investitionen: Öffentliche Finanzen allein können die Finanzierung der sozialökologischen Transformation nicht stemmen, nötig sind massive private Investitionen. Dass private Investitionen in Erdgas und Atomenergie im Rahmen der EU-Taxonomie als „nachhaltig“ eingestuft werden, wirkt einer zukunftsfähigen und fossil-freien Wirtschaft entgegen. Stattdessen müssen private Finanzen in dezidiert grüne und transformative Vorhaben fließen. Gelingen kann dies durch die konsequente Umsetzung und Weiterentwicklung der europäischen Regulierungsvorhaben wie der Richtlinie für die Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen (CSRD), der EU-Lieferkettenrichtlinie (CSDDD) und den auf Finanzinstitutionen abgestellten Regulierungen wie der Eigenkapitalrichtlinie (CRD), der Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente (MiFID), der Solvabilität, der Offenlegungsverordnung (SFDR) und der Taxonomieverordnung.

3. Die Förderung von Unternehmenstransformation und klimafreundlicher Beschäftigung

Um den Weg zu einer klimaneutralen Industrie erfolgreich zu gestalten, müssen die Förderungen und Maßnahmen von Unternehmen langfristig wirken und mit dem Ziel der Klimaneutralität in Einklang sein. Transparenz bei den Prozessen und Vorhaben im Klimaschutz ist entscheidend, damit die erzielten Fortschritte nachvollziehbar sind und Investitionen in Technologien und Geschäftsmodelle ihre volle Wirkung entfalten können. So werden die Klimavorteile im gesamten Unternehmen und entlang der Wertschöpfungskette maximiert. Die Transformation bietet zudem die Chance, die Beschäftigten aktiv einzubeziehen und zu unterstützen. Durch rechtzeitige und umfassende Weiterbildung können neue, zukunftsfähige Arbeitsplätze geschaffen werden, die den Anforderungen einer klimaneutralen Produktion gerecht werden. Dies sichert nicht nur die Beschäftigungsfähigkeit, sondern stärkt auch die Innovationskraft der Unternehmen. Ein erfolgreicher Transformationsprozess erfordert gut ausgebildete Fachkräfte, die mit den neuen Anforderungen vertraut sind. Daher ist es wichtig, die Belegschaft frühzeitig auf die bevorstehenden Veränderungen vorzubereiten und während des gesamten Prozesses sozial abzusichern. Vielerorts sind Belegschaften auch die treibenden Kräfte der Transformation. Dieses Potential gilt es durch Mitbestimmung und einen hohen Grad an Tarifbindung bestmöglich zu heben.

Dafür braucht es:

  • Die konsequente Umsetzung verbindlicher Transitionspläne: Mit der Einführung der Richtlinie für die Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen (CSRD) und der EU-Lieferkettenrichtlinie (CSDDD) werden Unternehmen verpflichtet, verbindliche und überprüfbare Transitionspläne mit wissenschaftlich fundierten Klima- und Umweltzielen zu entwickeln. Diese müssen nun konsequent umgesetzt und kontrolliert werden. Die zeitnahe Erstellung solcher Transitionspläne sollte unter Beteiligung der Sozialpartner erfolgen, zu einer Voraussetzung für jegliche öffentliche Finanzierung gemacht werden sowie für private Finanzierung möglichst handlungsleitend sein.
  • Arbeitsplätze und Weiterbildungen, die auf Klimaschutz einzahlen: Die Industrietransformation kann ein Motor für neue klimafreundliche Arbeitsplätze werden. Dafür sollte die Europäische Kommission Ziele und Empfehlungen für klimafreundliche Qualifizierungen und Beschäftigungen festlegen. Um diese Ziele zu erreichen, müssen Aus- und Fortbildung an Nachhaltigkeit und Klimaschutz ausgerichtet sowie Fördergelder an eine Ausbildungsquote geknüpft werden. Um die sozialen Auswirkungen von Jobwechseln abzumildern, sollten neben sanktionsfreien Sozialleistungen umfangreiche Fort- und Umschulungsangebote gemacht werden.

->Quellen: