European XFEL erzeugt exotische Materie
Die Erforschung der extremen Bedingungen, die im Inneren von Planeten, einschließlich der Erde, oder während einer Fusionsreaktion herrschen, ist eine große Herausforderung. Experimente am European XFEL erzeugen Materiezustände, die denen im Inneren von Planeten oder in der implodierenden Kapsel eines Trägheitsfusionsreaktors nahe kommen. Gleichzeitig eröffnen sie einen Weg, um ultrakurze Phänomene zu messen. Indem sie den extrem leistungsstarken Röntgenlaser des European XFEL auf eine Kupferfolie fokussierten, haben die Forscher einen sehr weit vom Gleichgewicht entfernten Zustand der Materie, die so genannte warme dichte Materie (WDM), erzeugt und untersucht, der solchen exotischen Umgebungen ähnelt. Ihre Ergebnisse sind ein bemerkenswerter Schritt zum Verständnis und zur Charakterisierung dieses schwer fassbaren Materiezustands, der für die Weiterentwicklung der Trägheitsfusion, einem vielversprechenden Prozess für saubere und reichlich vorhandene Energie, von entscheidender Bedeutung ist.
Der European XFEL ist eine 1,22 Mrd. Euro (2005) teure, internationale Röntgenlaser-Forschungseinrichtung, an der zwölf Länder beteiligt sind und die eng mit dem Forschungszentrum DESY und weiteren internationalen Partnern zusammenarbeitet. Die Bezeichnung XFEL kombiniert X-Ray, also Röntgenstrahlung, mit Free-Electron Laser, also Freie-Elektronen-Laser. In der Anlage sind mittels Röntgenblitzen dreidimensionale Detailaufnahmen von Molekülen, Zellen, Viren und chemischen Reaktionen möglich. Die 3,4 km lange Anlage kann Laserstrahlung mit Wellenlängen von 0,05 bis 4,7 Nanometern (Röntgenstrahlung) erzeugen. Die Tunnel reichen vom DESY-Gelände in Hamburg bis ins schleswig-holsteinische Schenefeld, wo sich der Forschungscampus mit einer unterirdischen Experimentierhalle befindet.
Wärme kann den Zustand der Materie drastisch verändern: Je nach Temperatur sind die Stoffe fest, flüssig oder gasförmig. In einem bestimmten Temperaturbereich nimmt die Materie auch einen Zustand an, der als warme dichte Materie (WDM) bekannt ist: Sie ist zu heiß, um durch die Physik der kondensierten Materie beschrieben zu werden, aber gleichzeitig zu dicht für die Physik der schwach gekoppelten Plasmen. Die Grenze zwischen warmer dichter Materie und anderen Materiezuständen ist nicht genau definiert. Häufig wird ein Temperaturbereich von 5.000 Kelvin bis 100.000 Kelvin bei Drücken von mehreren hunderttausend bar angegeben (wobei ein bar dem Luftdruck auf der Erdoberfläche entspricht). WDM ist in unserer täglichen Umgebung nicht stabil und lässt sich nur sehr schwer herstellen oder gar im Labor untersuchen. Normalerweise komprimieren Wissenschaftler Proben in Diamant-Ambosszellen, um hohe Drücke zu erreichen, oder verwenden leistungsstarke optische Laser, um Feststoffe für einen winzigen Bruchteil einer Sekunde in WDM zu verwandeln.
Die intensiven Röntgenpulse des European XFEL haben sich nun als sehr nützliches Werkzeug zur Erzeugung und Analyse von warmer, dichter Materie erwiesen. Als Probenmaterial verwendeten die Forscher Kupfer. „Die hohe Intensität der Pulse kann die Elektronen in der Kupferfolie so stark anregen, dass sie in den Zustand der warmen dichten Materie übergeht“, erklärt Laurent Mercadier, Wissenschaftler am SCS-Instrument (SCS steht für Spektroskopie und kohärente Streuung), der das Experiment leitete: „Dies zeigt sich in einer Veränderung der Lichtdurchlässigkeit“.
Ein Metall, das mit einem intensiven Röntgenpuls bestrahlt wird, kann transparent werden, wenn die Elektronen im Metall die Röntgenenergie so schnell absorbieren, dass keine Elektronen mehr zum Anregen übrig sind. Der verbleibende Schweif des Pulses kann dann das Material ungehindert durchdringen. Dies wird als sättigbare Absorption (SA) bezeichnet. Umgekehrt kann ein Metall zunehmend undurchsichtig werden, wenn die Vorderseite des Pulses angeregte Zustände erzeugt, die einen höheren Absorptionskoeffizienten haben als das kalte Metall. Das Ende des Pulses wird dann stärker absorbiert, ein Effekt, der als umgekehrte sättigbare Absorption (RSA) bekannt ist. Beide Prozesse werden in der Optik routinemäßig eingesetzt, beispielsweise um mit Lasern eine bestimmte Pulslänge zu erzeugen.
Die Forscher am European XFEL haben nun scharf gebündelte, 15 Femtosekunden lange (Eine Femtosekunde ist der trillionste Teil einer Sekunde – in dieser Zeit legt selbst Licht nur eine Strecke von
weniger als ein Hundertstel des Durchmessers eines Haares zurück) Röntgenpulse auf eine 100 Nanometer dicke (ein Nanometer ist der millionste Teil eines Millimeters) Kupferschicht eingestrahlt. Anschließend analysierten sie das übertragene Signal mit einem Spektrometer. „Das Spektrum hängt stark von der Intensität des Röntgenpulses ab“, erklärt Mercadier. „Bei geringer bis mittlerer Röntgenintensität wird Kupfer für den Röntgenstrahl immer undurchsichtiger und zeigt RSA. Bei höheren Intensitäten sättigt die Absorption jedoch und die Folie wird transparent“.
Diese drastischen Veränderungen der Opazität geschehen so schnell, dass die Atomkerne im Metall keine Zeit haben, sich zu bewegen. „Wir haben es mit einem sehr exotischen Zustand der Materie zu tun, bei dem das Gitter kalt ist und einige der ionisierten Elektronen heiß sind und sich nicht im Gleichgewicht mit den übrigen freien Elektronen des Metalls befinden“, erklärt Mercadier: „Um dies zu erklären, haben wir eine Theorie entwickelt, die Festkörper- und Plasmaphysik miteinander verbindet“. Für die Forscher ist die Veränderung der Trübung ein Zeichen dafür, dass es ihnen gelungen ist, warme, dichte Materie im Labor zu erzeugen und zu charakterisieren.
Das Verständnis der Materialtrübung unter diesen extremen Bedingungen ist für die Trägheitsfusion dringend erforderlich. Bei der Trägheitsfusion wird ein Brennstofftarget mit hoher Energie komprimiert und erhitzt, um die für die Fusion erforderlichen Bedingungen zu schaffen. Die Opazität bestimmt, wie viel Strahlungsenergie absorbiert oder durch das Material hindurchgelassen wird, was entscheidend dafür ist, dass die für die Kompression verwendete Energie nicht entweicht und somit effiziente Fusionsreaktionen ermöglicht werden.
Kurz ist nicht kurz genug
„Diese Effekte laufen so schnell ab, dass wir noch kürzere Röntgenpulse benötigen, um die Dynamik der Elektronen vollständig aufzulösen“, sagt Andreas Scherz, leitender Wissenschaftler am SCS-Instrument. „Kürzlich hat der European XFEL die Fähigkeit demonstriert, Attosekundenpulse (eine Attosekunde ist wiederum 1000 Mal kürzer als eine Femtosekunde) zu erzeugen, und damit eine Tür zur so genannten Attosekundenphysik geöffnet.“ Mit Attosekunden-Röntgenpulsen könnte man die Bewegung von Elektronen bei der Bildung von warmer, dichter Materie oder bei chemischen Reaktionen präzise „filmen“ und damit unser Verständnis z.B. von chemischen Prozessen oder der Funktionsweise von Katalysatoren deutlich verbessern.
Die Physik-Nobelpreise 2023 für die französisch-schwedische Physikerin Anne L’Huillier, den ungarisch-österreichischen Physiker Ferenc Krausz und den französisch-amerikanischen Physiker Pierre Agostini zeigen, dass dieses Forschungsthema hochaktuell ist.
->Quellen:
- xfel.eu/index_eng
- Originalpublikation: Laurent Mercadier, Andrei Benediktovitch, Špela Kruši?, Joshua J. Kas, Justine Schlappa, Marcus Agåker, Robert Carley, Giuseppe Fazio, Natalia Gerasimova, Young Yong Kim, Loïc Le Guyader, Giuseppe Mercurio, Sergii Parchenko, John J. Rehr, Jan-Erik Rubensson, Svitozar Serkez, Michal Stransky, Martin Teichmann, Zhong Yin, Matjaž Žitnik, Andreas Scherz, Beata Ziaja & Nina Rohringer: Transient absorption of warm dense matter created by an X-ray free-electron laser, in: nature physics, 29.07.2024; nature.com/articles/s41567-024-02587-w; open access
- de.wikipedia.org/European_XFEL