Energiewende zu „ertragbaren Kosten“

655 Milliarden bis 1,85 Billionen (Bruchteile des BIP)

Deutschland soll bis 2050 weitgehend treibhausgasneutral sein. Dazu muss das Energiesystem in allen Bereichen – Energiesektor, Gebäude, Industrie und Verkehr – umfassend umgebaut werden. Wissenschaftler vom Forschungszentrum Jülich haben berechnet, was es kostet, unser Energiesystem bis 2050 so umzugestalten, dass wir die Pariser Klimagrenzen einhalten: Insgesamt 655 Milliarden Euro, wenn um 80 Prozent reduziert werden soll. Das 95 Prozent-Szenario würde mit 1,85 Billionen Euro zu Buche schlagen. Die Jülicher Studie beruht auf detaillierten Berechnungen mithilfe einer ganzen Familie von neu entwickelten Computermodellen – so eine Medienmitteilung aus Jülich vom 31.10.2019.

Die Studie „Kosteneffiziente und klimagerechte Transformationsstrategien für das deutsche Energiesystem bis zum Jahr 2050“ zeichnet ein detailreiches Bild eines nahezu klimaneutralen Deutschland im Jahr 2050: Windkraft- und Photovoltaikanlagen produzieren fast das Sechsfache der heutigen Strommenge. Wasserstoff ist mit einem Verbrauch von 12 Millionen Tonnen pro Jahr ein bedeutender Energieträger; Wärmepumpen sind zur wichtigsten Heizungstechnik aufgestiegen. Weitere wichtige Einzelheiten: Unterirdische Wasserstoffspeicher stellen die Energieversorgung auch bei einer tagelangen Dunkelflaute sicher; Strom spielt eine zentrale Rolle in allen Sektoren; Biomasse und Biogas decken ein Viertel des deutschen Energiebedarfs. So ließen sich die Treibhausgasemissionen bis 2050 um 95 Prozent reduzieren.

Noch hat sich Deutschland allerdings nicht eindeutig auf eine solche 95-prozentige Reduktion festgelegt, sondern auf einen Zielkorridor zwischen 80 und 95. Daher haben die Jülicher Energiesystemanalytiker nicht nur die 95-Prozent-Variante betrachtet, sondern auch, wie das deutsche Energiesystem möglichst kostengünstig auf das weniger ambitionierte 80-Prozent-Ziel hin optimiert werden kann. Ergebnis: Dafür notwendige Maßnahmen sind nicht zwingend Bestandteil einer Reduktionsstrategie, die zu einer 95 Prozent Minderung führt. In Einzelfällen können sie sogar kontraproduktiv sein. Eine Reduktion um 80 Prozent sähe nämlich anders aus: Dann stiege der Stromverbrauch nur um die Hälfte. Erdgas ließe uns Dunkelflauten überstehen und Wasserstoff spielte nur in Verkehr und Industrie eine Rolle.

„Wir müssen daher bereits früh die Weichen stellen – auch, um nicht später in teurere Transformationspfade wechseln zu müssen“, sagt Studienleiter Martin Robinius vom Jülicher Institut für Techno-ökonomische Systemanalyse (IEK-3). So lasse sich etwa der notwendige Ausbau von Windkraft und Photovoltaik für das 95-Prozent-Ziel kaum realisieren, wenn er nicht bereits von heute an entsprechend intensiv vorangetrieben werde. „Da letztlich nur das 95-Prozent-Ziel annähernd Klimaneutralität bedeutet, empfehlen wir, alle kurz- bis mittelfristig anstehenden Maßnahmen zur Treibhausgasreduzierung bereits heute auf dieses Ziel hin auszurichten“, sagt Prof. Detlef Stolten, IEK-3-Direktor: „Wir konnten zeigen, dass sich der CO2-Ausstoß bis 2050 um 95 Prozent verringern lässt und das zu sehr ertragbaren Kosten.“

Frühzeitige Weichenstellung erforderlich

Erneuerbare und Energieeffizienz: Schlüssel für Energiewende

Die Studie zeigt für das 80-Prozent- wie für das 95-Prozent-Szenario zwei klare Abschnitte auf dem Weg ins Jahr 2050: Für eine möglichst kostengünstige Energiewende sollten ab sofort bis 2035 vor allem neue Windkraft- und Photovoltaik-Anlagen gebaut und zugleich die Energieeffizienz in allen Verbrauchssektoren bis 2035 massiv gesteigert werden. Danach gilt es, bis 2050 rasch und entschlossen alle noch auf fossilen Energieträgern basierenden Technologien in den Sektoren Industrie, Verkehr und Gebäude zu elektrifizieren oder auf Bioenergie umzustellen.

Energiewende verringert Abhängigkeit von Energieimporten

Die Maßnahmen der Energiewende werden zu einer deutlichen Verringerung von Energieimporten führen: ein weiterer wichtiger Aspekt, den die Studie aufzeigt. Ganz ohne Energieimporte wird man auch zukünftig nicht auskommen. Dies werden regenerative Energieträger wie z.B. synthetische Kraftstoffe oder Wasserstoff sein. Verglichen mit den heutigen Energieimporten liegen die zukünftigen Importe jedoch deutlich niedriger.

Jährliche Umbaukosten in Höhe heutiger Energieimport-Kosten

Nach den Berechnungen der Jülicher Wissenschaftler betragen die Mehrkosten des Umbaus für das 80-Prozent-Ziel im Jahr 2050 jährlich im Schnitt etwa 1,1 Prozent des dann erwarteten Bruttoinlandsprodukts. Bei dem ambitionierten Ziel einer 95-Prozent-Reduktion liegt der Kostenanteil bei 2,8 Prozent des BIP pro Jahr. In der Größenordnung entsprechen die jährlichen Mehrkosten den derzeitigen Aufwendungen für Energieimporte, die 2018 etwa 1,9 % des Bruttoinlandsprodukts betrugen. „Die Energiewende ist mit nennenswerten Investitionen verbunden. Allerdings sind die Transformationskosten planbar und überschaubar, während nachträgliche Anpassungskosten an den Klimawandel unsicher sind und um ein Vielfaches höher sein dürften“, kommentiert Robinius.

Anlässlich der Vorstellung der Studie erklärte Thomas Rachel, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Forschung, MdB: „Beim Klimaschutz müssen wir auch darauf achten, die Bürgerinnen und Bürger mitzunehmen und sie von unseren Erkenntnissen zu überzeugen. Die Jülicher Studie zeigt uns, wie sich unsere Industriegesellschaft nachhaltig umbauen lässt – und das im Einklang von Klimaschutz und Kosteneffizienz. Dieses Wissen trägt erheblich dazu bei, dass wir unsere wichtigen selbst gesteckten Klimaziele erreichen können.“

Einzigartige Modellfamilie bildet deutsche Energieversorgung über alle Verbrauchssektoren hinweg ab

Die neuartige Familie von Computermodellen, auf der die Studie basiert, bildet die gesamte deutsche Energieversorgung über alle Verbrauchssektoren hinweg ab, von der Energiequelle über alle denkbaren Pfade bis zur letztlich genutzten Energie – und zwar samt den Kosten. Dabei haben die Modelle eine außergewöhnlich große zeitliche und räumliche Detailtiefe. Beispielsweise kann eines der Modelle für ganz Europa analysieren und vorhersagen, wie viel erneuerbare Energie verfügbar ist – für jede Stunde und für jeden Längen- und Breitengrad.

Eine Kurzfassung der Studie im PDF-Format (43 Seiten), ein Handout (6 Seiten) sowie Präsentationen von der öffentlichen Vorstellung der Studie am 31.10.2019 sind auf der Website des Instituts für Energie- und Klimaforschung: Techno-ökonomische Systemanalyse verfügbar (s.u.).

->Quellen: