„Ich spreche von Jahrzehnten“

Klimakrise braucht Berichterstattung mit langem AtemJournalisten arbeiten meist mit kurzen Fristen, teils schlägt der Rhythmus der Berichterstattung von Tweet zu Tweet. Bei Themen wie dem Klimawandel jedoch braucht es langen Atem und ruhigen Blick. Der CNN-Journalist John D. Sutter startet deshalb eine echte Langzeitrecherche: Für ein Dokumentarfilmprojekt will er bis 2050 alle fünf Jahre dieselben vier Orte besuchen und die Folgen der Erderwärmung dokumentieren. In einem Gastbeitrag für klimafakten, ursprünglich publiziert auf der Webseite der Nieman Reports, erklärt er sein Projekt:

John D. Sutter studierte Internationale Politik und Journalismus an der Emory University, schrieb unter anderem für die Regionalzeitung The Oklahoman und arbeitet seit 2009 für den US-Nachrichtensender CNN. Dort berichtet er regelmäßig über den Klimawandel, unter anderem verantwortete er vor einigen Jahren das Projekt „2°“ (Foto: John D. Sutter – Foto © privat)

Wir Journalisten loben uns gern dafür, toll im akribischen Notieren und scharfsinnigen Dokumentieren zu sein – doch vor ein paar Monaten habe ich draußen in den Wäldern einen alten Mann getroffen, der uns alle in den Schatten stellt.

Er heißt John O’Keefe. Weißer Bart, grüner Pullover, seine grauen Augen leuchten hinter winzigen Brillengläsern, wenn er über sein Lieblingsthema spricht: Bäume. Seit nunmehr 30 Jahren schnappt sich O’Keefe, inzwischen 74 Jahre alt, jedes Frühjahr und jeden Herbst ein Klemmbrett aus seinem Kellerbüro in der Forschungsstation des Harvard Forest mitten in Massachusetts und dreht eine Runde durch den Wald. Haben sich an diesem Schwarzkirschen-Baum – „PP005“ – schon alle Knospen vollständig geöffnet? Falls ja, trägt er in der betreffenden Spalte ein: 100. An einem Rotahorn sind die Blüten verschwunden und zeigen sich erste Blätter, notiert er im entsprechenden Feld. Wieviel Prozent der Blüten eines anderen Baumes haben sich geöffnet? Die Antwort vermerkt er unter dem Kürzel „FOPN“ („flowers open“).

Vier Orte, alle fünf Jahre, bis 2050 – das ist die Idee hinter dem Langzeit-Filmprojekt „Baseline“; Foto/Screenshot © John D. Sutter

Dieses Dokumentieren fing an als eine Art Hobby. „Ich schaue einfach alles genau an und entwickle dann diese Protokolle“, hatte er sich gedacht. Es war eine Gelegenheit, an der frischen Luft zu sein und etwas zu tun, das er liebte. Schon früher als Kampfpilot der Massachusetts Air National Guard hatte O’Keefe festgestellt, dass er bei seiner Arbeit in Gedanken gar nicht beim Kampf war, sondern bei den Bäumen, die er tief unter sich sah.

Anfangs fanden einige Forscher im Harvard Forest dieses kleine Projekt – diese detaillierten Baumbeschreibungen – ziemlich unspannend. Aber Jahre später, während die Menschen immer weiter Abgase fossiler Brennstoffe in die Atmosphäre pusteten und O’Keefe weiterhin gewissenhaft seine Runden zwischen Ahornbäumen und Birken drehte, da entfaltete sich auf den Klemmbrettern nach und nach eine sehr unerwartete und zugleich bedenkliche Geschichte: Viele Bäume schlugen nun früher im Frühling aus, alle verloren ihre Blätter später im Herbst. Nach und nach wurden O’Keefes Notizen die detaillierteste Dokumentation darüber, wie die Klimakrise diesen ganz speziellen Wald belastete. Sie erzählten eine Geschichte, die ohne seine gewissenhafte, jahrzehntelange Arbeit unerkannt und unbekannt geblieben wäre.

Wir leiden unter dem, was Wissenschaftler „Generationen-Amnesie“ nennen

Geschichtenerzähler – und oft auch Wissenschaftler – arbeiten üblicherweise im Rahmen der „menschlichen Zeit“: Wir denken in täglichen (oder gar minütlichen?) Deadlines, in wöchentlichen Sitzungen, jährlichen Leistungsbeurteilungen. Gerade Journalisten legen häufig dieses Jetzt-und-zwar-sofort-Denken an den Tag. Aus der Notwendigkeit heraus sind wir konditioniert, von Sekunde zu Sekunde zu denken, von Tweet zu Tweet. Jahrzehnte, Jahrhunderte, Jahrtausende – der Zeithorizont unseres Planeten – landen normalerweise nicht mit großer Dringlichkeit in unserem Posteingang. O’Keefe und seine Notizen jedoch sind „Baum-Zeit“.

Im Kontext der Klimakrise könnte dieser blinde Fleck Konsequenzen haben, die das Ende unseres Planeten bedeuten. Wir leiden unter dem, was Wissenschaftler als „Generationen-Amnesie“ („generational amnesia„) oder als  „Syndrom der wandernden Ausgangsbasis“ („shifting baseline syndrome“) bezeichnen. Das heißt, dass Veränderungen in der natürlichen Welt sich so langsam vollziehen, dass wir sie oft nicht sehen und fast immer ihr Ausmaß und ihre Dringlichkeit verkennen.

Das Wort „Krise“ ist nicht genug, um die Generationen-Amnesie zu heilen

Die neueren Bemühungen des Guardian und vieler anderer Medien (darunter CNN, wo ich arbeite), statt von „Klimawandel“ künftig von „Klimanotstand“ oder „Klimakrise“ zu sprechen, sind Teil einer Lösung. Begriffe wie diese sollen erreichen, dass sich die Katastrophe, die faktisch mehrere Generationen betrifft (und die der Psychiater und Anti-Atomkriegsaktivist Eric Chivian als „Armageddon in Zeitlupe“ bezeichnet), schneller anfühlt. Doch das Wort „Krise“ ist nicht genug, um die Generationen-Amnesie zu heilen. Was wir brauchen, sind grundsätzlich andere Ansätze, Geschichten über das Klima zu erzählen.

Und genau einen solchen Versuch starte ich: eine Dokumentarfilm-Serie über mehrere Generationen hinweg mit dem Titel Baseline, mit Unterstützung der Nieman Foundation und des „National Geographic Society’s Explorer“-Programms. Mein Ziel ist es, vier Orte an der Frontlinie der Klimakrise auszuwählen und diese dann alle fünf Jahre bis zum Jahr 2050 wieder und wieder zu besuchen. Entstehen soll eine Art generationsübergreifender Zeitraffer – eine Längsschnitt-Fernsehserie. (Neuigkeiten zum Projekt gibt es auf Instagram oder dem Newsletter, Unterstützung ist über eine Crowdfunding-Kampagne möglich.)

Ich weiß, das Projekt klingt vielleicht ein bisschen sehr ambitioniert – wenn nicht gar völlig abgehoben. Andererseits rechtfertigt die Dimension der aktuellen Klimakatastrophe durchaus Bemühungen in dieser Größenordnung.

Seit mehr als einem Jahrzehnt berichte ich jetzt über die Klimakrise. In Honduras habe ich Familien getroffen, die eine beispiellose Dürreperiode erlebt haben. In Arkansas porträtierte ich Menschen, die von den Marshall-Inseln im Pazifik geflohen sind, weil die im Meer verschwinden. Nach dem Wirbelsturm Maria bin ich ein Jahr lang immer wieder nach Puerto Rico gereist und habe für CNN Todesfälle recherchiert, bei denen die US-Regierung keinen Zusammenhang mit dem Sturm sehen wollte. Doch nachdem ich einmal angefangen hatte, mich näher mit der Generationen-Amnesie zu befassen, habe ich feststellen müssen, dass die konventionellen Arten der Berichterstattung nicht funktionieren – oder zumindest nicht ausreichen. Es wiederholen sich immer die gleichen Geschichten und Argumente.

Gibt es irgendwelche Indizien dafür, dass wir beim nächsten IPCC-Bericht anders reagieren werden als bisher?

Einige Medien nennen den Klimawandel „Die größte Geschichte unserer Zeit“ – in Wahrheit aber haben Forscher schon seit Jahrzehnten Alarm geschlagen. Im Jahr 1988 sagte der NASA-Wissenschaftler James Hansen vor dem US-Senat aus, dass das Zeitalter der globalen Erwärmung begonnen habe. Zwei Jahre später veröffentlichte die Zeitschrift The Ecologist ein Buch mit der Botschaft, es gebe nur noch „5.000 Tage, um den Planeten zu retten“. Ungefähr 5.000 Tage später – wie von George Marshall in seinem Buch Don’t Even Think About It beschrieben – erklärte das Institute for Public Policy Research, es gäbe noch „zehn Jahre, um den Planeten zu retten.“

Inzwischen sind fünf große Sachstandsberichte des Weltklimarats erschienen, und jeder IPCC-Report war im Ton dringlicher als der vorherige. Gibt es irgendwelche Indizien dafür, dass wir beim nächsten anders reagieren werden als bisher?

Ich habe einige Beispiele, in denen die Generationen-Amnesie in Aktion bewundert werden kann: Diesen Sommer habe ich mich mit Loren McClenachan getroffen, Geschichtsökologin am Colby College im US-Bundesstaat Maine. Sie und ein Archivar der Stadtbibliothek in Key West, Florida, haben vor ein paar Jahren eine Reihe von Fotos ausgegraben, die mehr als ein halbes Jahrhundert lang immer den gleichen Angelsteg zeigten. Auf den Bildern, viele davon schwarzweiß, waren Fischer zu sehen mit dem besten Fang des Tages. Einst, in den 1950ern, waren diese Fisch-Trophäen größer als die Menschen – in den 2000ern gerade noch so lang wie ein Unterarm.

Wegen Überfischung und einiger anderer Gründe wurden die Fische immer kleiner – aber über die Generationen hinweg war es den Fischern gar nicht aufgefallen. Jedes Jahrzehnt lächelten sie wieder so breit in die Kamera wie zuvor.

Dasselbe passiert beim Klimawandel. Ein Team um die Umweltwissenschaftlerin Frances Moore von der University of California hat für eine im März 2019 erschienene Studie Tweets über das Wetter analysiert – es zeigte sich, dass die Menschen höchstens die letzten acht Jahre im Blick haben, wenn sie ein bestimmtes Wetter als außergewöhnlich bezeichnen. Laut Moore könnte man das mit dem sprichwörtlichen Frosch im kochenden Wasser vergleichen, der nicht merkt, wie die Temperatur langsam steigt.

Das Projekt Baseline möchte eine Art „Gegengift“ sein. Die Serie ist durch den Baum-Dokumentar O’Keefe sowie die Up-Filmreihe von Michael Apted beeinflusst. In den frühen 1960ern interviewte Apted für eine Fernsehsendung einige britische 7-Jährige – seitdem hat er dieselben Kinder alle sieben Jahre wieder aufgesucht, wo auch immer sie sich befanden, und hat einen neuen Film über deren Leben gemacht. Die bisher letzte Folge dieser Dokumentation kam im vergangenen Juni heraus, die Kinder sind inzwischen 63 Jahre alt. [Anm. d. Red.: Ein ähnliches Langzeitprojekt startete 1961 in der DDR: Die Kinder von Golzow.]

Baseline versucht einen Zeithorizont, der dem Klimawandel entspricht

Baseline verfolgt einen ähnlichen Ansatz: Es werden vier Orte besucht, die bereits heute existenziellen Bedrohungen durch die Klimakrise ausgesetzt sind – mit dem Versprechen, dieselben Menschen an denselben Orte alle fünf Jahre bis 2050 wieder zu besuchen. Zu den ausgewählten Orten gehört ein Dorf am nördlichen Polarkreis, Shishmaref in Alaska, das vielleicht umgesiedelt werden muss, weil die Küste taut und Landbrocken groß wie Häuser ins Meer stürzen. Dort lebt ein kleiner Junge, benannt nach einem Mann, der im Eis eingebrochen und umgekommen ist; er hat Angst vor dem Wasser und träumt nachts vom Ertrinken. Dann haben wir eine Bergbaustadt im ländlichen Utah, die von Waldbränden und sengender Hitze heimgesucht wurde, in der aber die Bewohner immer noch nicht glauben, dass die Erderhitzung menschengemacht ist.

Das Kalenderjahr wird das narrative Rückgrat des Films sein. In jeder Jahreszeit besuche ich einen der Orte. In ihrer Gesamtheit werden die einzelnen Kapitel zu einem gemeinschaftlichen Porträt eines Jahres auf der Erde verschmelzen. Neue Folgen gibt es dann alle fünf Jahre. Sie sollen den Zuschauern einen Anstoß geben, ganz neu über die Zukunft nachzudenken. Was wird mit diesen Orten und ihren Menschen passieren? Welche Veränderungen gibt es, die sie vielleicht selbst gar nicht bemerken?

Baseline versucht, auf einer Zeitebene mit der Klimakrise umzugehen, die ihr tatsächlich entspricht. Und ich hoffe, mich mit lokalen Filmemachern zusammentun zu können, sodass die Serie in der ein oder anderen Form nach 2050 weitergehen wird. Das Projekt konzentriert sich auf die Menschen und verfolgt einen qualitativen Ansatz, um die Generationen übergreifende Saga der Klimakrise zu verstehen. Aber ich werde auch einen wissenschaftlichen Beirat einrichten. Und in den Filmen werden einige Forscherinnen und Forscher zu Wort kommen – Menschen wie O’Keefe mit seinen Bäumen oder McClenachan mit ihren Fischen, die ihr Leben ohne große Anerkennung dem Datensammeln verschrieben haben und deren Notizen sie selbst überdauern werden.

Künftige Generationen werden auf uns schauen

Der erste Film mit dem Titel Baseline 2020 wird sowohl zurückschauen als auch nach vorn. Heimvideos oder private Fotoalben liefern Belege dafür, dass sich schon viel verändert hat. Das Dorf am Polarkreis zum Beispiel hat in den vergangenen Jahren bereits einen ganzen Spielplatz und ein Wohnviertel verloren – sie sind ins Wasser gestürzt, aber sie existieren noch in den Aufzeichnungen der Menschen vor Ort.

Ich bin nicht so naiv zu denken, dass Baseline all die beschriebenen Probleme der Klimakommunikation wird lösen können. Der Klimawandel ist größer als jede Einzelgeschichte – und größer als jede einzelne Generation. Wir leben in einer Zeit, in der jede Hand gebraucht wird. Neue und kreative und hemmungslos ambitionierte Arten des Geschichtenerzählens sind vonnöten. Wir müssen diese Krise konsequent ins Visier nehmen – und uns weigern, wegzuschauen. Künftige Generationen werden auf uns schauen und erwarten, dass wir diesen Moment festgehalten haben.

Dieser Beitrag ist die übersetzte und gekürzte Fassung eines Textes, der zuerst in den Nieman Reports erschien, dem Magazin der Nieman-Stiftung für Journalismus an der Harvard University im US-Bundesstaat Massachusetts

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