Zusammenhang der Krisen: Klimawandel, Artenschwund und Covid-19
Es ist noch nicht lange her, dass mitten in China eine neue Krankheit ausbrach. Inzwischen ist daraus eine Pandemie geworden. Sie hat verschiedene Namen erhalten: Covid-19 ist einer; populär heißt sie auch „Coronakrise“. Es ist aber auch noch nicht lange her, dass immer mehr Menschen, vor allem junge, auf die Straßen gingen und die Politik und uns alle zum Umdenken aufforderten. Der Klimawandel, die Biodiversitätsverluste und die sich immer weiter öffnende Schere zwischen arm und reich trieben sie an. Die Pandemie stoppte diese Bewegung, vorerst. Kann es sein, dass beides zusammenhängt? fragt Peter Finke und entwirft ein neues Zeitalter: Das Gaiazän.
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1. Gaia – auch ein Sanierungsfall
Zumindest einem Wissenschaftsforscher fällt eine deutliche Parallele auf zwischen der Krankheit der Menschen und der Krankheit der Erde. Ist Letzteres „nur“ eine Metapher? Die angesehenen Wissenschaftler James Lovelock und Lynn Margulis haben vor etwa dreißig Jahren die Gaia-Hypothese formuliert, wonach die Erde ein großes, komplexes Lebewesen ist. Wenn sie Recht haben, kann auch die Erde erkranken. Eines ist jedenfalls klar: Schuld daran sind wir, die Menschen. Deshalb nennt man unser fragwürdiges Gegenwartszeitalter auch zurecht „Anthropozän“.
2. Die Wissenschaft: immer noch Hoffnungsträgerin?
Nichts hat das Anthropozän, die Neuzeit und aktuelle Gegenwart, so geprägt wie die Wissenschaft. Wir verstehen darunter die angewandte Rationalität. Wir sind stolz auf sie. Viele verwechseln ihr hypothetisches Wissen sogar mit Gewissheit. Wir haben es gebraucht und brauchen es auch weiterhin. Die Wissenschaft wurde zur Hoffnungsträgerin par excellence. Waren es nicht ihre Ideen, Konzepte, Pläne, die uns die alltägliche Mühsal der Abwehr von Naturkatastrophen, der Arbeit, des Alltagslebens und Verkehrs erleichtern sollten und teilweise auch wirklich erleichtert haben? Sicher ist: Nichts hat auch die Erde so mitgeformt wie die Wissenschaft. Aber ist sie, auch heute noch, die Hoffnungsträgerin, die sie mal war und die wir angesichts der aktuellen Probleme auch für die Zukunft brauchen?
Zumindest spielt sie diese Rolle nicht mehr so unangefochten wie früher. Die junge Generation ist zu Recht skeptischer als die alte, denn es geht vor allem um ihre Zukunft. Sie fordert zum Beispiel von den Wirtschaftswissenschaftlern alternative Konzepte ein, die es ja gibt, aber bisher nicht genug in der Lehre auftauchen. Sie verlangt einen mutigen Kampf gegen den Klimawandel, die Zerstörung der Lebensgrundlagen Böden, Wasser und Luft, die wachsende Armut und die schwindende natürliche Vielfalt. Entschiedener, als der Trott des von Politik, Bildung und Forschung Gewohnten es gemeinhin zulässt. Sie fordert von uns ein neues Denken ein, aber auch ein neues Handeln. Sie ist nicht länger bereit, alles, was uns als „Fortschritt“ angepriesen wird, auch als solchen zu akzeptieren. Covid-19 bringt dies nun vorübergehend zu einem Halt, aber die alten Probleme sind damit nicht gelöst.
3. Solidität und Kreativität
Ich bin Wissenschaftsforscher und mir fällt noch etwas anderes auf. Die bisherige Analytische Wissenschaftstheorie erklärt uns die Wissenschaft immer nur als etwas Grundsolides, gewissermaßen Rationalität in Reinkultur. Logik und Methodologie beherrschen die Szene. Dabei könnten und müssten wir in der Coronakrise vor allem etwas ganz anderes lernen: dass es auch heute noch Situationen gibt, wo wir zunächst nichts wissen. Wie kommt die Wissenschaft denn damit zurecht? Ganz einfach (oder kompliziert, wie man will): Sie muss lernen, sich etwas einfallen lassen. Regeln befolgen hilft da gar nichts; man braucht Ideen, neue Ideen. Wenn jetzt also die Öffentlichkeit und die Politik von den Virologen erwarten, dass die ihr sagen, was nun zu tun ist, fehlt das Bewusstsein dafür, dass auch die erst einmal hinzulernen müssen.
Mir fällt also auf, dass die herrschenden Wissenschaftstheorien kein Konzept dafür entwickelt haben, uns noch vor der Solidität vor allem die Kreativität der Wissenschaft zu erklären. Im Gegenteil: Sie lassen es sogar zu, dass viele Menschen, auch Wissenschaftler selbst, ihre bisherigen Resultate als Gewissheiten missverstehen. Doch wenn eines gewiss ist, dann ist es die grundsätzliche Ungewissheit unseres Wissens. Wichtiger als alle noch so genauen Methoden ist jene Kreativität, ohne die wir auch die bisherigen Ergebnisse der Wissenschaft nicht hätten einfahren können.
- 4. Vernunft ist eine universale Mitgift der Natur
Dass Kreativität nicht als eine entscheidende Grundlage aller Wissenschaft erkannt und erklärt wird, ist ein schwerer Fehler der Wissenschaftstheorie. Er belastet heute auch die Diskussion um Covid-19. Aber es gibt noch viele weitere Fehler; ich kann hier nur wenige nennen. Das verstockte Festhalten an der „zweiwertigen“ Logik des Entweder-wahr-oder-falsch“ ist das Eine, die zunehmende Fixierung auf eine einzige Sprache (Stichwort „English only“) etwas Zweites, das Ausweichen in immer genauere Spezialisierungen mit der Kehrseite des Ausblendens der vielen hochkomplexen Zusammenhänge ein Drittes. Diese Zusammenhänge, auch wenn sie schwer zu erkennen sind, weil oft tief verborgen und durch Fach- und Fakultätsgrenzen verdeckt, wären dasjenige, was uns Wissenschaft vor allem erklären müsste. Interdisziplinarität war deshalb ein schöner, aber zu begrenzter Fortschritt; um Transdisziplinarität geht es heute.
Wir müssen erkennen, dass die Lupen der Spezialisten uns auch das Blickfeld immer mehr bequem einengen und wir alles als einen zweifellos schwer zu durchschauenden Zusammenhang sehen müssen. Auch die Vielheit der Sprachen und Kulturen kann nicht nur auf die bequeme Formel der entwickelten und der entwicklungsbedürftigen reduziert werden, denn wir können von allen etwas lernen. Vernunft ist nicht nur ein in der sogenannten westlichen Zivilisation vorhandener Vorzug, sondern als Humanpotenzial eine universale Mitgift der Natur. Die Erde könnte anders aussehen, wenn wir mehr auf die Werte gehört hätten, die andere Kulturen ihr gegenüber haben walten lassen. Hier könnte ein Pfad beginnen, auf dem wir sie doch noch einmal sanieren und die Hoffnungsträgerin zu neuem Leben erwecken können.
5. Drei entscheidende Gruppen
Ich sehe drei entscheidende Gruppen von Aktivisten, um anzusetzen. Die erste sind die Frauen. Das Anthropozän ist eine männlich geprägte Gegenwart, auch in der heutigen Wissenschaft. Es gibt kein Zurück zum Matriarchat der frühen Menschheit, als Macht noch keine Rolle spielte. Auch wenn ich kein Freund des kämpferischen Feminismus bin, der nur eine Machtumkehr wünscht, glaube ich doch, dass die kämpferischen Frauen alle Unterstützung verdient haben, weil sie den Mut haben, gegen die Dummheiten des Anthropozän anzugehen. Die Männer setzen nur auf Geld; das ist zu wenig.
Die zweite, weniger scharf umrissene Gruppe ist die Zivilgesellschaft. Sie hat viel zu wenig Einfluss auf die herrschende Wissenskultur, obwohl sie durchweg von ihr betroffen ist und sie letztlich auch finanziert. Die Frauen stellen die Hälfte der Zivilgesellschaft. Wenn überhaupt, wird sie zu spät in die Zukunftsplanung einbezogen; dann ist nichts Entscheidendes mehr zu ändern. Dies hängt auch mit der erbärmlichen Angst zusammen, mit der viele Wissenschaftsführer der längst überfälligen Demokratisierung der Wissenschaft noch immer ausweichen. Auch hier siegt bisher die Bequemlichkeit des Anthropozän vor dem Notwendigen: kreativ zu werden, umzudenken.
Schließlich die dritte, die umfassendste und wichtigste Gruppe: alle indigenen Kulturen der Erde. Sie, die Geringgeschätzten und Unterdrückten, sind zugleich die Heimat aller Zivilgesellschaften und aller Frauen. Wir beuten sie auch nach dem Ende der brutalen Zeit der Kolonisation und Versklavung immer noch aus, um unsere sogenannte „Globalisierung“ zu retten. Die Indigenen sind keine Freunde der Irrtümer des Anthropozän, denn sie haben Alternativen anzubieten, auch wenn dies für uns unangenehm wird. In vielen asiatischen, afrikanischen und ur-amerikanischen Kulturen haben sich zum Beispiel Gleichgewichtsideen entwickelt, die wir heute zur Erdsanierung dringend brauchen. Sie sind ein Ausdruck der Realität einer universalen Rationalität, die wir nicht länger als „Kulturrelativismus“ abtun dürfen.
6. Das Gaiazän
Ja, die Parallele zwischen der Krankheit der Menschen und der Krankheit der Erde gibt es. Beide sind Ausdruck des Zeitalters der Bequemlichkeit, des Anthropozän. Es ist mir auch bekannt, dass die Gaia-Hypothese von Lovelock und Margulis durch sehr viele Wissenschaftler abgelehnt wird. Für sie bleibt es eine Metapher. Es gibt gute und schlechte Metaphern. Vor letzteren sollte man sich hüten. Aber man sollte nicht übersehen, dass viele Wissensfortschritte durch gute Metaphern ausgelöst wurden: das Atom, die Kraft, die Arbeit, das Schachspiel usw.. Beim Wissen entscheiden ohnehin nicht Mehrheiten, sondern Argumente. Sie schaffen keine Gewissheit, aber schlagen einige Schneisen in die Ungewissheit.
Doch mir ist auch bekannt, dass der mittlerweile hundertährige James Lovelock vor kurzem noch ein neues Buch geschrieben hat, „Novozän. Das Zeitalter der Hyperintelligenz“. Er sieht jetzt voraus, dass der unvollkommene Mensch gerade noch rechtzeitig vor dem Erdentod durch gelungene Künstliche Intelligenz in seiner Vernunftfähigkeit optimiert werden wird. Das ist nun wirklich Science Fiction und nicht mehr Science. Wenn es jene Hyperintelligenz jemals geben sollte, müsste sie nichts Eiligeres zu tun haben, als sich rasch der fehleranfälligen Menschen zu entledigen. Ich möchte das nicht. Deshalb beschreibe ich ein anderen Ziel, ich sage es aber nicht voraus: ein Gaiazän. Das Anthropozän aber sollten wir schnellstmöglich beenden. Es muss die Sanierung der Erde noch einleiten. Zu mehr wird es nicht gebraucht.
Zum Autor: Univ.-Prof. em. Dr. Dr. h.c. Peter L.W. Finke (* 1942). U.a. seit 1982 Lehrstuhl für Wissenschaftstheorie an der Uni Bielefeld, zeitweise Gregory-Bateson-Professor für Evolutionäre Kulturökologie an der Privatuni Witten-Herdecke, sowie Gastprofessuren im In- und Ausland. Seit der Schülerzeit daneben immer ehrenamtliche Forschung (insbes. Zeitgeschichte, Naturschutz, Ökonomie). Derzeitige Schwerpunkte: Bücher, Aufsätze und Vorträge zum Vergleich Berufs- und Amateurwissenschaft, Citizen Science, Ökologische Linguistik, Wissenschafts- und Kulturkritik. Aktuell Arbeit an einem neuen Buch „Die objektive Zeugin. Abschied vom Anthropozän, Mut zum Gaiazän“.