Energiesystem umfasst weit mehr als nur technische Infrastruktur
Energiemodelle sind zwar in der Lage, die Wege zu einem dekarbonisierten Energiesystem zu untersuchen, aber sie vernachlässigen meist die sozialen und politischen Dimensionen der Energiewende. Das Potsdamer Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung stellte sich im Zusammenhang mit dem Beschluss des Europäischen Parlaments vom 07.10.2020, dass bis 2030 die Treibhausgasemissionen in er EU um 60% gegenüber 1990 reduziert werden sollen, die Frage: Wie können wir die erforderliche gesellschaftliche und politische Akzeptanz für eine vollständige Dekarbonisierung unserer Energiesysteme erreichen? Um eine realistischere, relevantere und nachhaltigere Entscheidungshilfe zu bieten, ist es an der Zeit, dass die Energiemodellierer soziale Belange in ihre Modelle integrieren (schreibt das IASS-Potsdam am 19.10.2020 auf seiner Internetseite).
Gesellschaft als treibende Kraft und Hemmnis der Energiewende
Künftige, überwiegend auf erneuerbaren Energien basierende Energiesysteme werden wahrscheinlich viel dezentraler, sie beziehen mehr lokale Akteure ein und die Energieinfrastrukturen sind näher an Wohngebäuden. Während wir sehen, dass sich die Bürger als Erzeuger und Verbraucher von Elektrizität – so genannte Prosumenten – engagieren und davon profitieren, finden wir in der Öffentlichkeit auch starken Widerstand gegenüber Infrastrukturen für erneuerbare Energien, wie z.B. Windparks und Stromnetze an Land. So wird die Gesellschaft gleichzeitig zum Motor und zur Hürde für eine erfolgreiche Energiewende.
Die derzeitigen Energiemodelle sind oft technisch-ökonomische Modelle, die soziale Aspekte der Energiewende meist vernachlässigen. Die Kostenoptimierung allein ist jedoch nicht in der Lage, sich der realen Transformation anzunähern, weil sie wesentliche ökologische und soziale Dimensionen des Energiewandels ignoriert. Die Auswirkungen auf die Landschaft, die soziale Akzeptanz, die Vorteile von Prosumerismus und Bürgerenergie, die Energieautarkie sowie die Energiearmut sind wesentliche Elemente einer gerechten und nachhaltigen Energiewende. Wenn diese Aspekte vernachlässigt werden, können die Modelle zu falschen politischen Entscheidungen führen. Ein Beispiel ist die Stagnation der Windenergienutzung in Deutschland. Diesen starken Rückgang, der teils auf veränderte Instrumente der Erneuerbare-Energien-Politik und eine verfehlte Akzeptanzpolitik zurückzuführen ist, hat wohl kein Modell vorhergesagt. Daher müssen wir die sozialen Dimensionen der Energiewende in der Energiemodellierung besser verstehen und berücksichtigen. Dies würde eine energiepolitische Entscheidungsfindung und Planung ermöglichen, die gesellschaftliche und politische Akzeptanz für die notwendigen Maßnahmen berücksichtigt.
Forderung nach der Berücksichtigung sozialer Aspekte in Energiemodellen
Bei einer Konferenz der Energy Modelling Platform for Europe (EMP-E) vom 6. bis 8. Oktober wurde ein hoher Bedarf an einer verbesserten Integration der sozialen Auswirkungen der Energiewende in Energiemodellen deutlich. Eine Live-Umfrage während der Plenarsitzung der Konferenz zum Thema „Sozio-ökonomische Auswirkungen der Energiewende“ zeigte, dass soziale Gerechtigkeit, Änderungen des Lebensstils und Auswirkungen auf das Wachstum die drei größten Herausforderungen sind, denen sich Entscheidungsträger im Zusammenhang mit dem Green Deal der EU stellen müssen und die daher auch in Energiemodellen Berücksichtigung finden sollten. In einer Online-Umfrage, die an die Teilnehmer der Konferenz geschickt wurde, stimmten 86% vollkommen oder eher zu, dass soziale Auswirkungen nicht ausreichend in Energiemodellen integriert seien und die Hälfte der Teilnehmer stimmte vollkommen zu, dass sie in Energiemodellen besser berücksichtigt werden sollten (Abb. 1).
Die Interessenvertreter forderten insbesondere, dass die Modelle in der Lage sein sollten, Energiearmut, Verbraucherverhalten, soziale Treiber/Hemmnisse sowie die soziale Akzeptanz von Technologien und Infrastruktur zu berücksichtigen (siehe Abb. 2). Dieses Ergebnis deckt sich mit den Ergebnissen unserer Umfrage im Rahmen des SENTINEL-Projekts, die ergab, dass die Energiemodelle weiter verbessert werden sollten, um das Verbraucherverhalten, die Lebensstile der Verbraucher sowie die sozialen Auswirkungen der Energiewende mitzudenken.
Die geforderten sozialen Aspekte sind jedoch noch kaum in Energiemodellen integriert. Ein Drittel der befragten Energiemodellierer gab an, das Verbraucherverhalten in den Modellen mitzurechnen, während Energiearmut, soziale Akzeptanz und soziale Treiber/Hemmnisse nur von einer Minderheit (0-12% der teilnehmenden Modellierer) berücksichtigt werden. Daher sollten Energiemodellierer kritisch reflektieren, ob es Modelle gibt, die soziale Aspekte ausreichend integrieren können und wo die Potenziale für die weitere Integration liegen.
Perspektiven für den Umgang mit sozialen Treibern und Hemmnissen in Modellen
Soziale Fragen sind für den Erfolg der Energiewende von wesentlicher Bedeutung. Daher müssen die Modelle Antworten auf gesellschaftlich relevante Fragen geben, wie z.B: Welche Dekarbonisierungsszenarien werden gesellschaftlich besser akzeptiert? Wie würden Energielandschaften und Energiemixe aussehen, wenn sie von regionalen Technologiepräferenzen getrieben wären? Was treibt Widerstände an und wie lassen sie sich in den Modellen beschreiben? Wie können wir regionale Implikationen, wie z.B. Beschäftigungseffekte, besser messen?
Die Berücksichtigung solcher Fragen ist immer noch selten, aber es gibt einige Ansätze zur Definition und Quantifizierung sozialer Angelegenheiten. Die Gesellschaft kann dann in soziale Handlungsstränge (Storylines), als Narrative in Szenarien oder als Eingabeparameter einbezogen werden. So lassen sich z.B. verschiedene gesellschaftliche Akzeptanzwege der Windenergieentwicklung modellieren oder die Beschäftigungseffekte verschiedener Entwicklungen im Bereich der erneuerbaren Energien simulieren.
Jüngste IASS-Forschungen von Tim Tröndle et al. haben gezeigt, dass kleinteilige Lösungen für die Erzeugung erneuerbarer Energien, die von den Bürgern oft favorisiert werden, erschwinglich sind und der Flächenbedarf für erneuerbare Energien zu relativ geringen Kosten reduziert werden kann. Letzteres biete das Potenzial, Landkonflikte zu verringern. Lombardi et al. nutzten zum Beispiel alternative Konfigurationen für die Dekarbonisierung des italienischen Energiesystems, um die technisch-ökonomische Machbarkeit besser mit sozialen und politischen Zielen in der Energieplanung in Einklang zu bringen.
Bei der EMP-E-Konferenz beleuchtete Jan-Philipp Sasse die Zielkonflikte zwischen den Szenarien zur Minimierung der Systemkosten, zur Maximierung der regionalen Gleichheit und zur Maximierung der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien, da die Begrenzung entstehender regionaler Ungleichheiten den Umsetzungserfolg fördern könnte. Johannes Emmerling stellte eine noch unveröffentlichte Arbeit vor, in der er zu dem Schluss kommt, dass der Klimawandel die Ungleichheiten innerhalb eines Landes verstärken könnte und dass die klimapolitischen Gewinne an Arbeitsplätzen durch erneuerbare Energien die Arbeitsplatzverluste in der fossilen Industrie überwiegen würden.
Die Verfügbarkeit von quantifizierten Daten zu sozialen Aspekten und deren Integration in Modellen bleibt eine zentrale Herausforderung. Eine engere Zusammenarbeit zwischen Sozialwissenschaftler und Energiemodellierer ist entscheidend, um aus der Arbeit der jeweils anderen zu lernen und bei der Quantifizierung und Darstellung sozialer und verhaltensbezogener Dimensionen der Energiewende in Energiemodellen voranzukommen.
Im Rahmen des SENTINEL-Projekts entwickeln wir ein Modell, um die bessere Integration von sozialer Akzeptanz und Opposition sowie von politischen Präferenzen in Energiemodellen zu unterstützen. Bitte setzen Sie sich mit uns in Verbindung, wenn Sie mehr über unsere Arbeit erfahren oder mit uns zusammenarbeiten möchten.
Modelle sind nicht die einzige Lösung
Schlussendlich können und sollten nicht alle sozialen Aspekte in Modelle einbezogen werden. Daher ist es nach wie vor von wesentlicher Bedeutung, dass Modellergebnisse nicht einfach als Grundlage für politische Entscheidungen herangezogen werden. Vielmehr müssen sie im Kontext sozialer und ökologischer Belange, die nicht im Modell berücksichtigt werden, und unter Einbeziehung verschiedener betroffener Interessengruppen diskutiert werden.
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