Supraleitung bei Raumtemperatur?

Druck noch zu hoch

Vor 111 Jahren entdeckte der niederländische Physik-Nobelpreisträger Heike Kamerlingh Onnes das Phänomen der Supraleitung (in Quecksilber) – eines sogenannten  makroskopischen Quantenzustands. Inzwischen sind zwar viele Materialien bekannt, die verlustfrei Strom leiten, bisher aber nur bei extrem niedrigen Temperaturen. Deshalb wurde seitdem viel daran geforscht, ein Material zu finden oder zu konstruieren, das auch bei Umgebungstemperatur verlustfrei Strom leitet. Inzwischen sind dabei etwa an der Universität Rochester im US-Staat New York große Fortschritte erzielt worden, aber es bleiben Zweifel.

Hoher Druck durch Amboss aus zwei Diamanten – Foto © J. Adam Fenster, University of Rochester (mit frdl. Genehmigung des Dias Lab)

„Den bisherigen Rekord hält ein Material“, schreibt Ralf Nestler am 15.03.2021im Berliner Tagesspiegel („Freie Fahrt für Elektronen“), „das Forscher um Ranga Dias (Universität Rochester) entwickelt haben. Es ist ein Gemisch aus Kohlenstoff, Schwefel und Wasserstoff, das selbst bei 15 Grad Celsius noch verlustfrei leitet.“ Aber: Es braucht enormen Druck: 270 Gigapascal (GPa = 1 Milliarde Pascal, oder ungefähr tausendmal unser „normaler“ atmosphärischer Luftdruck – um Graphit in Diamant umzuwandeln, bedarf es 6 GPa in einer hydraulischen Presse und mehr als 1500 °C). Die Entdeckung wurde zwar am 14.10.2020 in Nature und im Quanta-Magazin publiziert, stößt aber noch auf Skepsis der wissenschaftlichen Gemeinde.

„Wir und weitere Teams arbeiten daran, die Ergebnisse zu reproduzieren, aber das ist noch niemandem gelungen“, erklärt Mikhail Eremets vom Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz. Und Thomas Herrmannsdörfer vom Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf (HZDR) nennt die Vision von Dias lakonisch „Science Fiction – Suprahydride haben keine Chance unter Normaldruck zu existieren.“ Zu gern würde er sich vom Gegenteil überzeugen lassen, doch er halte das für unmöglich. „Wenn es um Anwendungen geht, werden wir weiter mit gekühlten Materialien arbeiten müssen.“ (Zitat Tagesspiegel)

Dennoch feierten Dias‘ Kollegen die Entdeckung: „Zum ersten Mal können wir wirklich behaupten, dass Supraleitung bei Raumtemperatur gefunden wurde“, sagte Ion Errea, Theoretiker für kondensierte Materie an der Universität des Baskenlandes in Spanien, der nicht an der Arbeit beteiligt war. Und Chris Pickard, Materialwissenschaftler an der Universität Cambridge, meinte: „Das ist eindeutig ein Meilenstein“, 15 Grad seien „ein kühles Zimmer, vielleicht ein britisches viktorianisches Cottage“. Das Fachmagazin „Science“ feierte die Entdeckung immerhin als einen der Durchbrüche des Jahres 2020, und das TIME-Magazin nahm Dias in seine zweite Liste („next„) der hundert einflussreichsten Persönlichkeiten des Jahres auf.

Doch so wie sie heute beschrieben wird, kann die neu entdeckte Verbindung kaum jemals für verlustfreie Stromleitungen oder reibungsfreie Hochgeschwindigkeitszüge eingesetzt werden. Das liege daran, so das Quanta-Magazin, „dass die Substanz nur dann bei Raumtemperatur supraleitend ist, wenn sie zwischen einem Paar Diamanten auf einen Druck gequetscht wird, der etwa 75 % so extrem ist wie der im Erdkern“.  Man habe zwar schon immer über die Supraleitung bei Raumtemperatur gesprochen, so Pickard, aber meist sei nicht ganz verstanden worden, welch hohe Drücke dafür nötig seien.

Dessen ungeachtet zählt Dias auf der Webseite der Rochester-Uni mögliche Anwendungen auf:

  • Stromnetze, die Elektrizität übertragen, ohne den Verlust von Millionen Gigawattstunden (GWh) Energie, der jetzt aufgrund des Widerstands in den Leitungen auftritt
  • Ein neuer Weg, um Schwebebahnen und andere Transportmittel anzutreiben
  • Medizinische Bildgebungs- und Scanverfahren wie MRT und Magnetokardiographie
  • Schnellere, effizientere Elektronik für digitale Logik- und Speichergeräte-Technologie

In München glaubt man daran: „Hier soll eine neue Leitung durch die Innenstadt gehen, um den Süden der Stadt besser versorgen zu können. Ein 380 Kilovolt-Kupferkabel wäre dafür nötig, das wiederum in einem zwölf Kilometer langen Tunnel verlegt werden muss, der ebenfalls zu bauen ist“, so der Tagesspiegel. Die Stadtwerke München wollen dafür ein supraleitendes 110-KV-Kabel entwickeln. Es hätte bei gleicher Leistung nur rund 15 Zentimeter Durchmesser und könnte ohne Tunnel (wie den für eine Kupferleitung) ins Erdreich verlegt werden – in Leerrohre. Sind die Tests erfolgreich, soll zunächst eine Teilstrecke gebaut werden und dann die kompletten zwölf Kilometer. Es wäre laut Stadtwerke München die „mit Abstand längste Supraleiterverbindung der Welt“.

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