Ablehnung von Wissenschaft und Medizin, Hauptmerkmal der US-Rechtsradikalen, hat sich weltweit verbreitet – mit freundlicher Genehmigung
„Wissenschaftsfeindlichkeit hat sich zu einer dominanten und äußerst tödlichen Kraft entwickelt, welche die globale Sicherheit ebenso bedroht wie der Terrorismus und die Verbreitung von Atomwaffen. Wir müssen eine Gegenoffensive starten und eine neue Infrastruktur aufbauen, um ‚Antiscience‘ zu bekämpfen, so wie wir es bei den anderen, bekannteren und etablierteren Bedrohungen getan haben“, schreibt Peter J. Hotez am 29.03.2021 in einem der ältesten und angesehensten Wissenschaftsjournale der USA, Scientific American.
Wissenschaftsfeindlichkeit ist die Ablehnung von wissenschaftlichen Mainstream-Ansichten und -Methoden oder deren Ersetzung durch unbewiesene oder absichtlich irreführende Theorien, oft zu schändlichen und politischen Zwecken. Sie zielt auf prominente Wissenschaftler ab und versucht, sie zu diskreditieren. Das zerstörerische Potenzial der Antiwissenschaft wurde in der UdSSR unter Joseph Stalin voll ausgeschöpft. Millionen russischer Bauern starben in den 1930er und 1940er Jahren an Hunger und Hungersnot, weil Stalin ausschließlich die pseudowissenschaftlichen Ansichten von Trofim Lysenko gelte ließ, die katastrophale Weizen- und andere Missernten provozierten. Sowjetische Wissenschaftler, die Lysenkos „Vernalisations“-Theorien nicht teilten, verloren ihre Positionen oder verhungerten, wie der Pflanzengenetiker Nikolai Vavilov, in einem Gulag.
Jetzt verursacht die Antiwissenschaft mit der COVID-19-Pandemie erneut ein Massensterben. Im Frühjahr 2020 startete das Weiße Haus unter Trump eine koordinierte Desinformationskampagne, welche die Schwere der Epidemie in den Vereinigten Staaten abtat, COVID-Todesfälle anderen Ursachen zuschrieb, behauptete, dass die Krankenhauseinweisungen auf einen Nachholbedarf an elektiven Operationen zurückzuführen seien, und verkündete, dass sich die Epidemie letztendlich von selbst verflüchtigen werde. Außerdem wurde Hydroxychloroquin als spektakuläres Heilmittel angepriesen, während die Bedeutung von Masken heruntergespielt wurde. Andere autoritäre oder populistische Regime in Brasilien, Mexiko, Nicaragua, den Philippinen und Tansania übernahmen einige oder alle dieser Elemente.
Als Impfstoffwissenschaftler und Elternteil einer erwachsenen Tochter mit Autismus und geistiger Behinderung habe ich jahrelange Erfahrung im Kampf gegen die Anti-Impf-Lobby, die behauptet, dass Impfstoffe Autismus oder andere chronische Krankheiten verursachen. Dies bereitete mich darauf vor, die ungeheuerlichen Behauptungen der Mitarbeiter des Weißen Hauses von Trump schnell zu erkennen und sie als wissenschaftsfeindliche Desinformation zu bezeichnen. Trotz meiner besten Bemühungen, Alarm zu schlagen und sie aufzudecken, verursachte die wissenschaftsfeindliche Desinformation in den Bundesstaaten mit republikanischer Meherheit eine große Verwüstung. Während des Sommers 2020 beschleunigte sich die Verbreitung von COVID-19 in den Südstaaten, weil die Gouverneure dort voreilig Beschränkungen aufhoben und so eine zweite und unnötige Welle von COVID-19-Fällen und Todesfällen auslösten. Nach einer großen Motorradrallye in Sturgis, South Dakota, kam es dann im Herbst zu einer dritten Welle im oberen Mittleren Westen. Ein Kennzeichen beider Wellen waren Tausende von Individuen, die ihre Identität und politische Zugehörigkeit mit der Rechten verbanden und sich gegen Masken und soziale Distanzierung wehrten. Ein Tiefpunkt war eine öffentlichkeitswirksame Krankenschwester auf der Intensivstation, die weinend die sterbenden Worte eines ihrer Patienten nacherzählte, der darauf bestand, dass COVID-19 ein Schwindel sei.
Jetzt ist ein neuer Test des Trotzes und der gleichzeitigen Treue zur Republikanischen Partei in Form des Widerstandes gegen COVID-19-Impfstoffe aufgetaucht. Mindestens drei Umfragen der Kaiser Family Foundation, unsere in der Zeitschrift Social Science and Medicine veröffentlichte Studie, und die PBS News Hour/NPR/Marist-Umfrage weisen jeweils auf Republikaner oder weiße Republikaner als eine der wichtigsten impfstoffresistenten Gruppen in Amerika hin. Mindestens jeder vierte republikanische Abgeordnete im Repräsentantenhaus lehnt die COVID-19-Impfung ab. Wir sollten damit rechnen, dass viele dieser Personen in den kommenden Monaten ihr Leben durch COVID-19 verlieren könnten.
Historisch gesehen war Wissenschaftsfeindlichkeit kein wesentliches Element der Republikanischen Partei (GOP – Grand Old Party). Die Nationale Akademie der Wissenschaften wurde unter der Lincoln-Regierung gegründet, die NASA in der Eisenhower-Regierung, und PEPFAR (U.S. President’s Emergency Plan for AIDS Relief), PMI (President’s Malaria Initiative) und das NTDs (neglected tropical diseases) Programm wurden in der George W. Bush-Regierung ins Leben gerufen. Ich war in den 2000er Jahren Professor und Lehrstuhlinhaber für Mikrobiologie an der George Washington University in Washington, D.C., und arbeitete eng mit Mitgliedern des Weißen Hauses von Bush zusammen, um diese Programme zu gestalten.
Ich führe die Übernahme von Wissenschaftsfeindlichkeit als eine wichtige Plattform der GOP auf das Jahr 2015 zurück, als die Anti-Impf-Bewegung auf den politischen Extremismus der rechten Seite einschwenkte. Es begann zuerst in Südkalifornien, als eine Masernepidemie nach weit verbreiteten Impfstoffausnahmen ausbrach. Die kalifornische Legislative beendete diese Ausnahmen, um die öffentliche Gesundheit zu schützen, aber dies entzündete eine Gesundheitsfreiheits-Rallye. Gesundheitsfreiheit gewann dann an Stärke und beschleunigte sich in Texas, wo sich ein politisches Aktionskomitee bildete, das mit der Tea Party verbunden war. Proteste gegen Impfstoffe wurden zu einer wichtigen Plattform der Tea Party; dies verallgemeinerte sich dann im Jahr 2020, um Masken und soziale Distanzierung zu überwinden. Weiter beschleunigt wurden diese Trends von rechten Think Tanks wie dem American Institute of Economic Research, das die Great Barrington Declaration [ein Corona-verharmlosender, pseudowissenschaftlicher Text, der die Herden-Immunität favorisierte] sponserte, und der Hoover Institution an der Stanford University, der Heimat des Arztes Scott Atlas, der ein leitender Berater der Koronavirus-Task Force des Weißen Hauses von Trump wurde.
Die volle Anti-Wissenschafts-Agenda der republikanischen Partei hat sich nun über unsere nationalen Grenzen hinaus verbreitet. Im Sommer 2020 war die Sprache der wissenschaftsfeindlichen politischen Rechten in Amerika bei Anti-Masken- und Anti-Impf-Kundgebungen in Berlin, London und Paris in aller Munde. In der Berliner Rallye berichteten Nachrichtenagenturen über Verbindungen zu Q-Anon und extremistischen Gruppen. Zu dieser giftigen Mischung kommen neue Berichte von US-amerikanischen und britischen Geheimdiensten, dass die von Putin geführte russische Regierung daran arbeitet, Demokratien durch ausgeklügelte Programme der COVID-19-Anti-Impfung und Anti-Wissenschafts-Desinformation zu destabilisieren. Die öffentliche Ablehnung von COVID-19-Impfstoffen erstreckt sich mittlerweile auf Indien, Brasilien, Südafrika und viele Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen.
Wir nähern uns drei Millionen Todesfällen durch die COVID-19-Pandemie, und es wird immer deutlicher, dass das SARS-CoV2 nicht allein verantwortlich ist. Erleichtert wird die Ausbreitung von COVID-19 durch eine sich ausbreitende und globalisierende Anti-Wissenschafts-Bewegung, die bescheiden unter dem Banner der Gesundheitsfreiheit begann, das von der republikanischen Tea Party in Texas übernommen wurde. Tausende von Todesfällen sind bisher die Folge von Anti-Science, und das ist vielleicht erst der Anfang, denn wir sehen jetzt die Auswirkungen der Impfstoffverweigerung in den USA, Europa und den Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen in Afrika, Asien und Lateinamerika.
Die Eindämmung von Anti-Science wird Arbeit und einen interdisziplinären Ansatz erfordern. Für innovative und umfassende Lösungen könnten wir ressortübergreifende Arbeitsgruppen in der US-Regierung oder unter den Organisationen der Vereinten Nationen ins Auge fassen. Angesichts der Rolle von staatlichen Akteuren wie Russland und Anti-Impf-Organisationen, die das Internet monetarisieren, sollten wir uns darauf einstellen, dass jede Gegenoffensive komplex und vielschichtig sein könnte. Es steht viel auf dem Spiel, wenn man bedenkt, dass die Zahl der Todesopfer durch den Doppelschlag von SARS CoV2 und der Impfgegnerschaft bereits stark ansteigt. Wir müssen darauf vorbereitet sein, eine ausgeklügelte Infrastruktur zu implementieren, um dem entgegenzuwirken, ähnlich dem, was wir bereits gegen etabliertere globale Bedrohungen unternommen haben. Anti-Science ist jetzt ein großes und gewaltiges Sicherheitsproblem. (Peter J. Hotez)
Peter J. Hotez, M.D., Ph.D., ist Professor für Kinderheilkunde und molekulare Virologie am Baylor College of Medicine, wo er das Texas Children’s Center for Vaccine Development mit leitet. Er ist der Autor des kürzlich erschienenen Buches „Preventing the Next Pandemic: Vaccine Diplomacy in a Time of Anti-Science“ (Johns Hopkins University Press)