Rechtsgutachten aus Leipzig
Das Klimaschutzurteil des Bundesverfassungsgerichts könnte sich ganz erheblich auf die Erneuerbare-Energien-Politik in einzelnen Bundesländern auswirken, so das Magazin Erneuerbare Energien am 06.10.2021. Denn ein im Auftrag der SPD-Landtagsfraktion in Bayern entstandenes Rechtsgutachten des Umweltrechtsexperten Kurt Faßbender von der Universität Leipzig zeigt auf, dass die 10H-Regelung in Bayern angesichts des Klimaschutz-Urteils des Bundesverfassungsgerichts verfassungswidrig ist. Die Landtags-SPD will jetzt die 10H-Regel erneut verfassungsrechtlich prüfen lassen.
Die bayerische SPD erwägt einen neuen Anlauf, um die umstrittene Mindestabstandsregel für Windräder juristisch zu kippen. Man prüfe unter anderem eine neue Klage vor dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof, sagte Fraktionschef Florian von Brunn. Er forderte die Staatsregierung auf, die sogenannte 10H-Regel von sich aus zu streichen. Die CSU und Freie Wähler müssten nur dem bereits von der SPD in den Landtag eingebrachten Antrag auf Abschaffung zustimmen. Erst wenn diese Chance verstrichen sei, werde über konkrete Klagewege entschieden, so von Brunn.
Die 2014 eingeführte 10H-Regel in Bayern reduziere die verfügbare Fläche für die Windenergie um bis zu 97 Prozent. Seit Inkrafttreten der 10H-Regelung gingen die Anträge für neue Windkraftanlagen um 99 Prozent zurück. 2017 wurden Windenergieanlagen mit Genehmigung von vor 2014 mit einer Leistung von 314 Megawatt Netto zugebaut. Zwischen 2018 und 2020 kamen nur noch 18 bis 32 MW pro Jahr hinzu. Der bayerische Verfassungsgerichtshof hatte eine Klage gegen die 10H-Regelung 2016 abgewiesen.
Von Brunn sieht die Staatsregierung deshalb nun unter Zugzwang. „Das Bundesverfassungsgericht hat klar entschieden, dass es gegen die Grundrechte unserer Kinder und zukünftiger Generationen verstößt, wenn nicht schon vor 2030 Treibhausgas-Emissionen in starkem Maße reduziert werden“, erklärte er. „Genau das konterkariert aber die 10H-Regelung, weil sie den Windkraftausbau und sogar die Modernisierung von Windkraftanlagen fast zum Erliegen gebracht hat.“ Das führe zu viel zu viel CO2-Ausstoß und verstoße damit gegen die Verfassung. „Wir werden das als SPD nicht akzeptieren und deswegen alle rechtlichen Möglichkeiten nutzen, um den Windkraftstopp für besseren Klimaschutz abzuschaffen“, kündigte der SPD-Politiker an.
Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hatte die 10H-Regelung in einem Urteil vom Mai 2016 bestätigt. Durch die Festlegung eines höheren Mindestabstands werde der räumliche Anwendungsbereich für Windkraftanlagen zwar erheblich eingeschränkt, aber nicht beseitigt, hieß es damals in der Begründung des Gerichts. Die Verfassungsrichter folgten also nicht der Argumentation der Kläger, mit der 10H-Regelung werde der Neubau von Windkraftanlagen praktisch unmöglich gemacht.
Faßbender betont nun aber unter Verweis auf ein vom Umweltbundesamt in Auftrag gegebenes Forschungsprojekt, der Windenergieausbau in Bayern sei nahezu vollkommen zum Erliegen gekommen. Zudem wirke sich die 10H-Regelung negativ auf die Möglichkeiten eines Repowering aus, also die Ersetzung vorhandener durch neue, leistungsfähigere Anlagen. Auch die pauschale Annahme des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, dass die 10H-Regelung geeignet sei, das Ziel der Akzeptanzsteigerung zu befördern, müsse jedenfalls mittlerweile als widerlegt gelten.
Die Karlsruher Verfassungsrichter im März geurteilt, dass das deutsche Klimaschutzgesetz aus dem Jahr 2019 nicht mit dem Grundrecht vereinbar ist – zumindest teilweise. Ab dem Jahr 2031 würden ausreichend Vorgaben für die Reduzierung der Treibhausgasemissionen fehlen. Eine Gruppe junger Menschen, die um ihre Zukunft und die kommender Generationen fürchtet, hatte geklagt. Die Bundesregierung verschärfte daraufhin ihr Klimagesetz. Konform mit dem Pariser 1,5 Grad-Ziel ist aber auch die Neufassung nicht.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts besagt, „dass das Grundgesetz unter bestimmten Voraussetzungen zur Sicherung grundrechtsgeschützter Freiheit über die Zeit und zur verhältnismäßigen Verteilung von Freiheitschancen über die Generationen verpflichte. “ Dafür sei unter anderem der jetzige Ausbau der Windenergie von zentraler Bedeutung, der auch dort stattfinden müsse, wo der Strom gebraucht wird. In Bayern behindere die 10H-Regel dies, resümiert Faßbender in seinem Rechtsgutachten und verweist auf die Reduzierung der verfügbaren Flächen und den schleppenden Ausbau.
Die SPD, die die neue Studie in Auftrag gegeben hat, die 10H für verfassungswidrig erklärt, bescheinigt der CSU, die Energiewende an die Wand gefahren zu haben. Und tatsächlich mehren sich die Stimmen, die auch dem Kurs gegen die Windkraft eine Teilschuld daran geben, dass die CSU diesmal in Bayern bei den Wahlen nicht so souverän gewonnen hat, wie in den Vorjahren.
Im Wortlaut: Zusammenfassung der Ergebnisse
- Jede Person, die sich fachlich fundiert mit dem Ausbau der Windenergie an Land befasst, ist sich darüber im Klaren, dass die Flächenverfügbarkeit hier das größte Problem darstellt. Dessen ungeachtet enthält die Bayerische Bauordnung seit dem Jahr 2014 eine sog. 10-H-Regelung, die dazu führt, dass Windenergieanlagen in Bayern grundsätzlich nur noch dann gebaut werden dürfen, wenn der Abstand zur nächstgelegenen Wohnbebauung mindestens dem Zehnfachen der Anlagenhöhe (H) entspricht. Dementsprechend muss der Abstand zur nächstgelegenen Wohnbebauung bei modernen Windenergieanlagen, die meist eine Höhe von 200m oder mehr aufweisen, mindestens 2. 000m, also mindestens 2km betragen.
- Die10-H-Regelung führt nach einem vom Umweltbundesamt (UBA) in Auftrag gegebenen Forschungsvorhaben zu einer Reduzierung der Fläche für die Windenergienutzung um 85 bis 97 Prozent. In der Folge ist der Windenergieausbau in Bayern nahezu vollkommen zum Erliegen gekommen. Ferner wirkt sich die 10-H-Regelung überaus negativ auf die Möglichkeiten eines Repowering, also die Ersetzung vorhandener Windenergieanlagen durch neue leistungsfähigere Anlagen aus.
- Wenngleich derartige negative Auswirkungen von manchen frühzeitig vorhergesagt wurden, hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof die 10-H-Regelung im Jahre 2016 im Wesentlichen aus der Perspektive der Verfassung des Freistaates Bayern gebilligt.
- Angesichts der zentralen Bedeutung des Windenergieausbaus für die Energiewende und für den Klimaschutz in Deutschland insgesamt bedarf die 10-H-Regelung jedoch einer verfassungsrechtlichen Neubewertung, da der sog. Klima-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 24. 3. 2021 einige verfassungsrechtliche Neuerungen mit sich gebracht hat, die zu einer signifikanten Stärkung des Klimaschutzes führen.
- Eine der zentralen Neuerungen des Klima-Beschlusses ist die Aussage, dass das Grundgesetz unter bestimmten Voraussetzungen zur Sicherung grundrechtsgeschützter Freiheit über die Zeit und zur verhältnismäßigen Verteilung von Freiheitschancen über die Generationen verpflichte. Dahinter steht unter anderem die Annahme, dass Freiheit auch ein verteilungsfähiges Gut ist, was sodann Fragen der Umweltgerechtigkeit nach sich zieht. Aus diesen und anderen Gründen sollte der erneuerbare Strom –anders als bisher – verstärkt dort produziert werden, wo er gebraucht wird: im Süden Deutschlands. Allerdings bedarf die Frage, ob einzelne Vorschriften außerhalb des Bundes-Klimaschutzgesetzes, die so wie die 10-H-Regelung den Übergang zur geforderten Klimaneutralitätin durchaus erheblicher Weise hemmen, einer Überprüfung am Maßstab des neuen Grundrechts auf intertemporale Freiheitssicherung zugänglich sind, einer Klärung durch das Bundesverfassungsgericht
- Letztlich kommt es hierauf aber nicht an, weil die 10-H-Regelung jedenfalls in das grundrechtlich geschützte Recht der betroffenen Eigentümer eingreift, ihr Grundstück im Rahmen der Gesetze baulich zu nutzen. Ferner liegt auch ein relevanter Eingriff in die grundrechtlich geschützte Berufsfreiheit der Anlagenbetreiber vor. Deshalb stellt sich die bereits in der Vergangenheit kontrovers diskutierte Frage, ob dieser Grundrechtseingriff gerechtfertigt ist.
- Diese Frage ist ebenfalls neu zu stellen und auch neu zu bewerten, weil das Bundesverfassungsgericht im Klima-Beschluss aus Art. 20a GG ein sog. Klimaschutzgebot hergeleitet hat, das „den Staat“, und damit Bund und Länder, aber auch Kommunen zur Herstellung von Klimaneutralität verpflichtet. Dieses Klimaschutzgebot ist bei Eingriffen in das Eigentumsgrundrecht und in die Berufsfreiheit bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen. Dabei ist nach dem Klima-Beschluss weiterhin zu beachten, dass das relative Gewicht des Klimaschutzgebots in der Abwägung beifortschreitendem Klimawandel weiter zunimmt. Schließlich betont das Verfassungsgericht im Klima-Beschluss, dass dem Gesetzgeber durch Art. 20a GG eine permanente Pflicht aufgegeben sei, das Umweltrecht den neuesten Entwicklungen und Erkenntnissen in der Wissenschaftanzupassen.
- Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der 10-H-Regelung ist bereits zweifelhaft, ob die Förderung der Akzeptanz des Ausbaus der Windenergie einen hinreichenden Eingriffszweck darstellt, weil es sich hierbei um ein äußerst weiches und nicht rationalisierbares Kriterium handelt
- Selbst wenn man das anders sieht, kann jedenfalls die pauschale Annahme des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, dass die 10-H-Regelung geeignet sei, das Ziel der Akzeptanzsteigerung zu befördern, mittlerweile als widerlegt gelten. Vor diesem Hintergrund stellt das Umweltbundesamt (UBA) zu Recht fest, dass pauschale Siedlungsabstände wie die 10-H-Regelung schlicht ein ungeeignetes Instrument zur Steigerung der Akzeptanz gegenüber der Windenergienutzung darstellen
- Durchgreifenden Bedenken begegnet ferner die verfassungsrechtlich gebotene Erforderlichkeit der 10-H-Regelung, weil die Beteiligung der Anwohner in einem anlassbezogenen Projektplanungsprozess, in dem auch geklärt werden könnte, inwiefern Anwohner finanziell beteiligt werden könnten, nicht nur ein milderes und gleich geeignetes, sondern ein deutlich besser geeignetes Instrument zur Förderung der Akzeptanz von Windenergieanlagen ist.
- Nimmt man vor diesem Hintergrund eine umfassende Abwägung unter Berücksichtigung sämtlicher verfassungsrechtlich erheblicher Belange vor, so erweist sich, dass die 10-H-Regelung jedenfalls nicht (mehr) angemessen und damit nicht verhältnismäßig im engeren Sinne ist, weil ihre erheblichen Nachteile für die Grundrechtsbetroffenen und für den Klimaschutz gegenüber den – ohnehin frag-würdigen – Vorteilen deutlich überwiegen
- Damit ist als Gesamtergebnis festzuhalten, dass die 10-H-Regelung verfassungsrechtlich nicht mehr haltbar ist, wenn man in gebührender Weise die Aussagen des Bundesverfassungsgerichts im Klima-Beschluss sowie – damit zusammen-hängend – die neuesten Entwicklungen und Erkenntnisse zu den Wirkungen der 10-H-Regelung berücksichtigt.
->Quellen: