Neue ESYS-Stellungnahme – Kurzfassung
Mehr Windgeneratoren und Photovoltaikanlagen – und das in kurzer Zeit: Deutschland muss Tempo aufnehmen im Ausbau Erneuerbarer Energien, um seine Klimaziele erreichen zu können. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine erhöht zusätzlich den Handlungsdruck, so schnell wie möglich Unabhängigkeit von fossilen Rohstoffen zu erlangen. Welche Möglichkeiten Deutschland hat, um den Ausbau zu beschleunigen, zeigt das Akademienprojekt „Energiesysteme der Zukunft“ (ESYS) in seiner neuen Stellungnahme „Wie kann der Ausbau von Photovoltaik und Windenergie beschleunigt werden?“ Solarify dokumentiert die Kurzfassung der am 27.06.2022 online präsentierten Stellungnahme.
Die Fachleute analysieren Hemmnisse bei der Umsetzung von Erneuerbare-Energien-Anlagen aus einer interdisziplinären Perspektive und liefern konkrete Handlungsoptionen für deren Abbau.
Nach Einschätzung der Experten gilt es nun, komplizierte und langwierige Planungs- und Genehmigungsprozesse zu transformieren und mehr sowie frühere Beteiligung der Bevölkerung zuzulassen. Zudem sehen sie einen Bedarf, schnell neue Flächen für den Ausbau zu erschließen und heute wenig genutzte Flächenpotenziale besser auszuschöpfen. Nicht zuletzt sind sich die Fachleute über die Notwendigkeit einig, infrastrukturell und regulatorisch einen passenden Rahmen für die Stromversorgung aus erneuerbaren Energien schaffen zu müssen.
Kurzfassung: Wie kann der Ausbau von Photovoltaik und Windenergie beschleunigt werden?
Voraussetzungen für eine höhere Flächenverfügbarkeit schaffen
Trotz hoher Akzeptanz in der Bevölkerung werden Windenergie und Photovoltaik nicht schnell genug ausgebaut, um die Klimaziele zu erreichen. Vier Handlungsfelder sind zentral, um die Ausbaugeschwindigkeit pro Jahr um ein Vielfaches zu erhöhen :
- Eine vorausschauende Planungskultur integriert die bundes- und landesweiten Ausbauziele in die Regionalplanung. Klare, einheitliche Naturschutzkriterien und mehr personelle Ressourcen in den Behörden können helfen, Planungs- und Genehmigungsprozesse zu beschleunigen.
- Mehr und frühere Bürgerbeteiligung sowie finanzielle Teilhabe von Kommunen, Anwohnerinnen und Anwohnern können die Akzeptanz stärken. Beteiligungsverfahren sollten darauf abzielen, positives, gestalterisches Potenzial der Bürgerinnen und Bürger zu aktivieren und die Energiewende als sinnvolles Gemeinschaftsprojekt erfahrbar zu machen.
- Flächenziele für Bund und Länder können die Flächenbereitstellung für Windenergie- und PV-Freiflächenanlagen sicherstellen. Daneben kann das Solarpotenzial auf geeigneten Gebäudedächern sowie die Förderung von Agri-PV und Floating-PV die Mehrfachnutzung von Flächen unterstützen.
- Technische Infrastrukturen und der regulatorische Rahmen der Stromversorgung müssen daran angepasst werden, dass zukünftig der Großteil des Stroms aus PV und Windenergie stammen wird. So soll ermöglicht werden, dass Windenergie- und Solaranlagen zur Netzstabilität beitragen. Darüber hinaus ist zu prüfen, inwiefern Importabhängigkeiten im Bereich der erneuerbare-Energien-Technologien ein Risiko für die Energiewende darstellen und wie diesem Risiko entgegengewirkt werden könnte.
Windenergie und Photovoltaik müssen deutlich schneller ausgebaut werden
Um das Ziel der Klimaneutralität bis 2045 zu erreichen, sollten erneuerbare Energien in etwas mehr als zwei Jahrzehnten den gesamten Energiebedarf decken. Windenergie- und Photovoltaikanlagen werden zukünftig die tragenden Säulen der Energieversorgung sein. Sie bergen noch große ungenutzte Potenziale und gehören durch die enormen Kostensenkungen heute zu den kostengünstigsten Technologien der Stromerzeugung.
Auch die gesellschaftliche Akzeptanz ist prinzipiell hoch. Die Mehrheit der Bevölkerung wünscht sich ambitionierteren Klimaschutz und befürwortet die Energiewende und insbesondere auch den Ausbau von Wind- und Solarenergie.
Energieszenarien zeigen, dass für eine kosteneffiziente Energieversorgung Strom aus Wind- und Solarenergie zukünftig auch große Teile des Energiebedarfs im Wärmeund Verkehrssektor sowie in der Industrie decken wird. Trotz großer und notwendiger Fortschritte bei der Energieeffizienz wird der Strombedarf daher stark zunehmen.
Um die ambitionierten Ziele der Bundesregierung von 200 Gigawatt PV, 100 Gigawatt Wind an Land und 30 Gigawatt Wind auf See zu erreichen, ist ein starker Anstieg der Ausbaugeschwindigkeit nötig. Bis zum Jahr 2030 ist daher gegenüber dem Jahr 2021 eine Vervielfachung des jährlichen Zubaus bei PV-Anlagen von ca. 5 Gigawatt auf 20 Gigawatt, bei Windanlagen an Land von ca. 2 Gigawatt auf 10 Gigawatt und bei Windanlagen auf See von unter 1 Gigawatt auf 7 Gigawatt.2 Die gesamt installierten Kapazitäten müssen zur Erreichung der Klimaneutralität im Jahr 2045 bei Windenergie am Land bis auf das Vierfache, bei Windenergie auf See bis auf das Neunfache und bei Photovoltaik bis auf das Achtfache der heute installierten Leistung ansteigen.
Hemmnisse für einen beschleunigten Ausbau
Trotz der starken Kostenreduzierungen beim Bau von Photovoltaik- und Windenergieanlagen und einer hohen gesellschaftlichen Zustimmung zum Ausbau blieb der jährliche Zubau in jüngster Vergangenheit bei beiden Technologien hinter ihren Spitzenwerten in früheren Jahren zurück. Ein Grund dafür ist, dass die Folgekosten für die Nutzung fossiler Brennstoffe aufgrund eines zu niedrigen oder fehlenden Preises auf Kohlendioxidemissionen nicht ausreichend berücksichtigt sind. Somit ist kein unverzerrter Wettbewerb zwischen den Technologien gegeben. Es stehen aber auch Hemmnisse im Bereich der Planungs- und Genehmigungspraxis sowie teilweise mangelnde lokale Akzeptanz für konkrete Projekte vor Ort einem schnelleren Ausbau im Wege :
- Eine restriktive Regionalplanung und unzureichend• Lange, komplexe Genehmigungsverfahren in Kombination mit Personalmangel in den Behörden führen zu teils mehrjährigen Verfahren.
- Obwohl die Bevölkerung die Energiewende generell befürwortet, hat die Umsetzung von konkreten Maßnahmen vor Ort auch Gegenstimmen mit einer hohen Klagebereitschaft.
Teilweise verzögern Klagen die Umsetzung der Ausbauprojekte erheblich.
- Ungenügende Beteiligung an Planungsprozessen sowie fehlende finanzielle Teilhabe lassen Unterstützungspotenziale von betroffenen Kommunen sowie Anwohnerinnen und Anwohnern ungenutzt.
- Eine pauschale Priorisierung anderer Belange (militärisch, Radar, Wetterradar, Erdbebenmessstationen etc.) statt angemessener Einzelfallabwägung kann der Realisierung von Projekten im Wege stehen.
- Unklare und offene Vorgaben zum Natur- und Artenschutz erschweren die Umsetzung von Projekten durch die Behörden und geben oft Anlass zu Rechtsstreitigkeiten.
- Ein hoher bürokratischer Aufwand (Meldepflichten, Gewerbeanmeldung, Steuererklärung) schreckt Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümer von der Errichtung von PV-Anlagen auf Dächern oder an Fassaden ab.
- Darüber hinaus kann der aktuelle energiewirtschaftliche Gesetzesrahmen, der auf eine zentrale Stromversorgung ausgerichtet ist, zukünftig ein Hemmnis werden, wenn er keine verursachergerechte Umlage der Stromsystemkosten vorsieht und somit zu Fehlanreizen führt.
- Weiter sollte geprüft werden, ob die fast vollständige Importabhängigkeit bei Photovoltaikanlagen von einem einzigen Land (China) die Transformation des Energiesystems in Zukunft gefährden kann.
Gesellschaftliche Akzeptanz als Schlüssel
Demoskopische Studien zeigen seit Jahren eine anhaltend hohe Zustimmung der Bevölkerung zu Klimaschutzmaßnahmen und zum Ausbau der erneuerbaren Energien. Photovoltaik und Windenergieanlagen gehören dabei zu den Technologien, die am stärksten befürwortet werden. Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger ist der Ansicht, dass jede und jeder einen Beitrag zur Energiewende leisten sollte. Die praktische Umsetzung der Energiewende wird jedoch oft als teuer, langsam und bürgerfern kritisiert.
Vor allem bei der Windenergie gibt es zudem teilweise erhebliche Probleme bei der Umsetzung vor Ort. Denn obwohl häufig eine Mehrheit der Anwohnerinnen und Anwohner den Anlagen positiv gegenübersteht, werden 20 Prozent der Windenergieanlagen im Genehmigungsverfahren beklagt.
Es gilt also, Wege für die Umsetzung der Energiewende zu finden, die das große gesellschaftliche Unterstützungspotenzial für den Ausbau der erneuerbaren Energienmobilisieren. Erkenntnisse aus der Akzeptanzforschung deuten darauf hin, dass frühzeitige und umfassende Möglichkeiten zur Mitgestaltung es Menschen erleichtert, Veränderungen positiv anzunehmen und sich mit der Energiewende als Gemeinschaftsprojekt zu identifizieren.
Vorausschauend und integrativ: eine neue Planungs- und Genehmigungskultur
Planungs- und Genehmigungsverfahren sollten sicherstellen, dass einerseits ausreichend Flächen für Windenergie- und Photovoltaikanlagen zur Verfügung stehen und andererseits Projekte schnell genug umgesetzt werden können. Hierzu ist eine Überarbeitung der rechtlichen Grundlagen erforderlich. Sinnvoll ist hier eine Kultur in der Planungs- und Genehmigungspraxis, in der die Energiewende als Chance und Bürgerbeteiligung als Ressource begriffen werden. Ein Fokus auf Gestaltung („Raumbilder“, „Entwicklungskonzepte“, „Projektideen“) statt auf negativen Aspekten („Raumwiderstände“, „Konfliktminimierung“) kann helfen, kreatives Potenzial der Bürgerinnen und Bürger zu aktivieren.
Erneuerbare-Energien-Anlagen werden zunehmend zu einem selbstverständlichen Teil des Landschaftsbilds. Ziel der Raumplanung sollte daher sein, Anlagen in die Landschaft im Sinne einer allgemeinen positiven Neugestaltung von Landschaften zu integrieren, anstatt sie wie bisher vor allem in abgewerteten Resträumen zu konzentrieren.
Eine Mehrfachnutzung von Flächen, zum Beispiel durch innovative Ansätze wie Agri-und Floating-PV oder gebäudeintegrierte Photovoltaikanlagen sowie die verstärkte Nutzung von Photovoltaikanlagen auf Gebäudedächern können dabei helfen, mögliche Flächenkonkurrenzen abzumildern.
Systemintegration: Energieversorgung von den Erneuerbaren aus denken
Bisher wurde versucht, die erneuerbaren Energien mittels Sonderregeln wie das Erneuerbare- Energien-Gesetz (EEG) in das von fossilen und nuklearen Kraftwerken dominierte System zu integrieren. Da bereits rund die Hälfte des Stroms aus erneuerbaren Energien stammt, ist absehbar, dass dieser Ansatz bald an seine Grenzen stoßen wird.
Daher ist ein Paradigmenwechsel erforderlich: Die fluktuierenden erneuerbaren Energien müssen zukünftig im Zentrum von technischem System- und Marktdesign stehen.
Technische Infrastrukturen wie Stromnetze, Regeln zum Erbringen von Systemdienstleistungen und das Strommarktdesign sollten so konzipiert werden, dass sie eine zuverlässige und kostengünstige Stromversorgung mit einem schnell wachsenden Anteil fluktuierender erneuerbarer Energien ermöglichen und unterstützen.
Handlungsoptionen: Wie kann der Ausbau beschleunigt werden?
Um den Ausbau von Windenergie- und Photovoltaikanalgen zu beschleunigen, schlägt die ESYS-Arbeitsgruppe folgende 12 Handlungsoptionen (HO) in 4 zentralen Handlungsfeldern vor:Der Ausbau der erneuerbaren Energien benötigt Flächen und tritt damit teilweise in Konkurrenz zu anderen Nutzungen, beispielsweise der Landwirtschaft. Eine stärkere Nutzung von Dächern und Fassaden zur Solarenergiegewinnung sowie eine Mehrfachnutzung von Flächen können diesbezügliche Konflikte entschärfen.
- Handlungsoption 3.1 :
Ein gesetzlich festgelegtes Flächenziel für Erneuerbare-Energien-Anlagen kann dabei helfen, ausreichend Flächen für den Ausbau zu gewährleisten und somit eine versorgungssichere und klimaneutrale Energieversorgung zu erreichen. Die Länder können darauf aufbauend im Rahmen der Landes-, Regional- und kommunalen Raumplanung sicherstellen, dass ausreichend Flächen für Windenergie- und Photovoltaik-Anlagen ausgewiesen werden, um die vereinbarten Landesziele zu erreichen.
- Handlungsoption 3.2 :
Mehrfachnutzungen von Flächen, insbesondere durch PV-Anlagen (zum Beispiel Fassaden-PV, Agri-PV, Floating-PV) sollten in den regulativen Vorgaben der Raumordnung und im Baurecht berücksichtigt und ermöglicht werden.
- Handlungsoption 3.3 :
Die umfassende Erschließung geeigneter Gebäudedächer mit Photovoltaikanlagen kann helfen, potenzielle Flächenutzungskonkurrenzen abzumildern. Dies könnte über stabile wirtschaftliche Anreize unterstützt werden, etwa durch die Erhöhung der Einspeisevergütung oder der Marktprämie. Alternativ oder ergänzend könnte auch eine Solarplicht auf Neubauten und bei Bestandssanierung zielführend sein.
Windenergie- und Photovoltaikanlagen müssen in Kombination mit Speichern und einer Flexibilisierung des Verbrauchs zunehmend Netzstabilisierung und Versorgungssicherheit übernehmen. Das Strommarktdesign und weitere regulatorische Rahmenbedingungen der Energieversorgung müssen dies ermöglichen und sicherstellen, dass es ökonomisch hinreichend attraktiv ist.
- Handlungsoption 4.1 :
Die systemdienliche Integration volatiler Stromerzeugung erfordert eine geeignete informations- und kommunikationstechnische Infrastruktur sowie die Entwicklung der erforderlichen Leistungselektronik.
- Handlungsoption 4.2 :
Ein neuer ganzheitlicher regulativer Rahmen für den Strommarkt sollte unter anderem Anreize setzen, dass Erneuerbare-Energien-Anlagen systemdienlich errichtet und betrieben und Beiträge zur Systemstabilität angemessen vergütet werden.
- Handlungsoption 4.3 :
Es sollte analysiert werden, ob die derzeitige hohe Importabhängigkeit bei Photovoltaikmodulen von einem einzigen Land (China) ein Risiko für die Erreichung der Ausbauziele darstellt. Ist dies der Fall und kann der Bezug nicht verlässlich diversifiziert werden, sollte geprüft werden, ob der Aufbau einer Photovoltaikproduktion in Europa einen sinnvollen Beitrag zu der von der Bundesregierung angestrebten Energiesouveränität im Sinne einer robusten, gegen Krisen und politische Einflussnahme gefestigten Energieversorgung leisten kann.
->Quellen: