Streckbetrieb laut Regierung vertretbar
Aus Sicht des Parlamentarischen Staatssekretärs im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMU), Christian Kühn (Bündnis 90/Die Grünen), ist der 2011 beschlossene Ausstieg aus der „Hochrisikotechnologie“ Atomkraft „auch in diesen Zeiten multipler Krisen richtig“- so der parlamentseigene Pressedienst heute im bundestag über eine öffentlichen Sitzung des Petitionsausschusses am 09.11.2022. Den Streckbetrieb der drei noch laufenden Atomkraftwerke bis zum 15.04.2023 halte er aus Sicherheitsperspektive für vertretbar. Eine Laufzeitverlängerung indes bräuchte „erhebliche Investitionen in den Kraftwerken, um die Sicherheit auf dem gleichen Niveau zu gewährleisten“, sagte der BMU-Staatssekretär.
Für den Weiterbetrieb der deutschen Kernkraftwerke „als dritte Klimaschutzsäule neben Sonne und Wind“ plädiert indes Professor André Thess, Institutsleiter am Lehrstuhl für Energiespeicherung der Universität Stuttgart, in seiner 58.471-mal mitgezeichneten öffentlichen Petition (ID 136760), die Grundlage der Sitzung war. Darin verweist Thess auf die „Stuttgarter Erklärung“ vom 25.07.2022, in der 19 erstunterzeichnende aktive Professorinnen und Professoren deutscher Universitäten die sofortige Aufhebung der Atomausstiegs-Paragrafen im Atomgesetz und eine Prüfung der sicherheitstechnischen Betriebserlaubnis fordern, um deutschen Kernkraftwerken den Weiterbetrieb zu ermöglichen. Die Unterzeichnenden plädierten für den Weiterbetrieb der aktuell laufenden AKW über den 15.04.2023 hinaus, sowie für die Wiederinbetriebnahme der Ende 2021 stillgelegten AKW, sagte der Petent. Es brauche eine Abwägung zwischen den Risiken des Klimawandels und den Risiken der Kernenergie. Dazu müsse es eine breite öffentliche Diskussion „auf wissenschaftlicher Basis“ geben. Seiner Auffassung nach ist die Abschaltung von Kernkraftwerken „mitten in einer Energiekrise“ ein Risiko für 83 Millionen Bürger. Das Risiko eines Black-Outs habe auch die Bundesregierung erkannt und als Reaktion darauf Kohlekraftwerke wieder in Betrieb genommen. Dies stehe aber im Widerspruch zu den deutschen Emissionszielen, sagte Thess.
Die Gesetzentwürfe von Bundesregierung und CDU/CSU-Fraktion für eine 19. Änderung des Atomgesetzes sind in einer öffentlichen Anhörung im Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz am Mittwoch auf ein geteiltes Echo der Experten gestoßen. Dabei lehnten einzelne Sachverständige jede Regelung zum befristeten Weiterbetrieb der letzten drei aktiven deutschen Atomkraftwerke (AKW) ab und pochten auf den geplanten Atomausstieg zum Jahresende. Von den übrigen Sachverständigen begrüßte ein Teil der insgesamt neun Experten das Vorhaben der Bundesregierung, andere unterstrichen die Vorteile der von der Union vorgeschlagenen Regelung. (bundestag.de/presse/hib/kurzmeldungen-920318)
BMU-Staatssekretär Kühn machte während der Sitzung auf Probleme der Lagerung atomarer Abfälle aufmerksam. „Wir haben bis heute in Deutschland, aber auch weltweit keine sichere Endlagerung für die Atomabfälle“, sagte er. Kühn wies zugleich Vorwürfe zurück, bei der Prüfung der Laufzeitverlängerung seien den Ministeriumsmitarbeitern Vorgaben gemacht worden, damit das entsprechende Gutachten „grüner Ideologie“ entspreche. Das BMU sei die Institution, die sich seit vielen Jahrzehnten um die nukleare Sicherheit in Deutschland kümmere, so Kühn.
Stefan Wenzel (Bündnis 90/Die Grünen), Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK), betonte, auch abweichende Meinungen seien selbstverständlich in die Entscheidung des Ministeriums eingegangen. Beim „Stresstest“ habe es eine hohe Transparenz gegeben. Die Ergebnisse seien, „anders als in der Vergangenheit“, veröffentlicht worden. Wenzel warnte auch mit Blick auf die für den Weiterbetrieb der AKW benötigten Brennelemente vor neuen Abhängigkeiten. 50 Prozent der Brennelemente befänden sich in den Händen Russlands. Damit käme man vom Regen in die Traufe, weil die Abhängigkeit hier noch größer sei. Was die CO2-Emissionen angeht, so verwies der BMWK-Staatssekretär darauf, dass diese bei Atomstrom bis zu zehnmal so hoch seien wie bei der Windkraft, wenn auf den gesamten Prozess geschaut werde.
Historikerin pro AKW
Die den Petenten begleitende Historikerin Anna Veronika Wendland sieht indes bei Uran kein dem leitungsgebundenen Energieträger Erdgas ähnelndes Abhängigkeitsverhältnis. Der einmal beschaffte Brennstoff könne auf dem Gelände des AKW „ohne Mühen“ vorgehalten werden. Im Übrigen gebe es bei der Photovoltaik eine 80-prozentige Abhängigkeit von chinesischen Rohstoffen und chinesischen Anlagenbauern.
Wendland betonte zugleich die hohe Sicherheit deutscher Atomkraftwerke. „Hätte Isar 2 in Tschernobyl gestanden, würden wir den Namen nicht kennen“, sagte sie. Das gleiche gelte höchstwahrscheinlich auch für Fukushima, da die Hochwassersicherheit deutscher AKW höher liege. Petent Thess plädierte dafür, anstelle von Begrifflichkeiten wie Hochrisikotechnologie lieber Zahlen und Fakten als Grundlage für die Diskussion einzusetzen. Nehme man die relevante Zahl der „Todesopfer pro produzierter Terawattstunde“, so liege diese bei der Kohlekraft deutlich über jener der Kernkraft, sagte er.
Einig waren sich Petenten und Ministeriumsvertreter, dass ohne die angesichts des geplanten Atomausstiegs ausgesetzte Periodische Sicherheitsüberprüfung (PSÜ) eine Weiternutzung der Kraftwerke über den 15.04.2023 nicht möglich sei. Die PSÜ werde nicht nachgeholt, weil sie für den Streckbetrieb nicht benötigt werde und die Kraftwerke im Anschluss nicht mehr im Leistungsbetrieb verblieben, sagte BMU-Staatssekretär Kühn. Anders als von den Petenten dargestellt, sei die PSÜ mehr als nur eine Datenanalyse, die im Verwaltungsgebäude des Kraftwerkes stattfindet. „Das ist nicht nur eine Papierarbeit, sondern eine längere Überprüfung des gesamten Kraftwerks hinsichtlich des neuesten wissenschaftlichen Standes der Technik“, sagte Kühn. Es sei nicht abschätzbar, welche zusätzlichen Arbeiten für den Betrieb der Anlage sich daraus ergäben. (hib/HAU)
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