Gefahr digitaler Medien für Demokratie

Deutliche Einflüsse auf Faktoren wie Vertrauen, Partizipation, Populismus und Polarisierung

Es gibt zwei gängige Denkweisen über die Demokratie im Online-Zeitalter. Erstens: Das Internet ist eine Befreiungstechnologie und wird eine Ära der globalen Demokratie einläuten. Zweitens: Man kann soziale Medien oder Demokratie haben, aber nicht beides. Was ist richtiger? Es besteht kein Zweifel, dass die Demokratie weltweit auf dem Rückzug ist. Selbst in vermeintlich stabilen Demokratien kam es in letzter Zeit zu Ereignissen, die mit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit unvereinbar sind, wie etwa der gewaltsame Angriff auf das US-Kapitol 2021.

In den „sozialen“ Medien bestimmen oft einzelne, laute Leute und schrille Posts den politischen Diskurs – Bild © Gerd Altmann auf Pixabay

Eine der umstrittensten Fragen unserer Zeit ist, ob die rasante weltweite Verbreitung digitaler Medien mitverantwortlich ist für eine Schwächung der Demokratie. Während Öffentlichkeit und Politik die Risiken sozialer Medien breit diskutieren, argumentieren Technologieunternehmen, dass die Auswirkungen nicht eindeutig belegt sind. Pauschal zu verteufeln sind digitale Medien sicherlich nicht. Allerdings können sie Polarisierung und Populismus – besonders in etablierten Demokratien – befeuern. Darauf weist eine am 07.11.2022 in Nature und im Open-Access-Portal The Conversation veröffentlichte Untersuchung des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, der Hertie School in Berlin und der University of Bristol hin, die sich damit befasst, ob und wie sich digitale Medien auf politische Verhaltensweisen auswirken. Dafür haben die Forschenden korrelative und kausale Belege aus fast 500 wissenschaftlichen Artikeln über den Zusammenhang zwischen digitalen Medien und Demokratie weltweit zusammengefasst und in der Zeitschrift Nature Human Behaviour veröffentlicht.

„Unsere Übersichtsarbeit bietet – angesichts der kontrovers und auch von Interessen geleiteten Debatte – den Vorteil, dass sie systematisch ist und die Ergebnisse unvoreingenommene Schlüsse zulassen,“ sagt Autor Philipp Lorenz-Spreen vom MPI für Bildungsforschung. Er beschäftigt sich im Forschungsbereich Adaptive Rationalität damit, wie neue Technologien zu einer online gelebten partizipativen Demokratie beitragen können. Zwar lasse sich die Rolle der digitalen Medien für die Demokratie nicht einfach nur als ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ bewerten, doch zeigten die Ergebnisse deutlich, dass digitale Medien sehr wohl Einfluss auf politisches Verhalten haben können, so der Autor weiter.

Sechs Schlüsselfaktoren

Sechs Schlüsselfaktoren verändern sich mit der Nutzung digitaler Medien besonders und haben einen relevanten Einfluss auf die Demokratie:

  1. Partizipation,
  2. politisches Wissen,
  3. Vertrauen,
  4. Polarisierung,
  5. Populismus sowie
  6. Echokammern.

Die ersten beiden Faktoren wirken sich dabei tendenziell positiv aus: Die Möglichkeit politischer Teilhabe über Online-Medien fördert die Mobilisierung von Wählerinnen und Wählern und die Wahlbeteiligung, was die die demokratische Legitimation von Regierungen und Parlamenten stärkt. Zudem können digitale Medien politisches Wissen fördern und für ein vielfältigeres Nachrichtenangebot sorgen. Ein kleinerer Teil der Untersuchungen belegt aber auch negative Auswirkungen auf politische Kenntnisse, beispielsweise durch den Effekt „news-finds-me“: So tendieren Social Media User dazu, sich nicht mehr aktiv zu informieren, da sie glauben, dass wichtige Informationen sie automatisch erreichen.

Viele der zugrundeliegenden Studien bescheinigen, dass die Nutzung digitaler Medien das Vertrauen in die Politik und in demokratische Institutionen wie Parlamente beschädigt. Auch das Vertrauen in klassischen Medien wie Zeitungen und Fernsehsendern sinkt. Zusätzlich wachsen der Populismus – in Europa besonders am rechten Rand des politischen Spektrums – und die Polarisierung in der Bevölkerung. Das zeigen nicht nur Korrelationsstudien, sondern auch Studien über kausale Zusammenhänge. „Bei der Untersuchung komplexer politischer und gesellschaftlicher Phänomene ist es wichtig zu prüfen, ob wirklich ein ursächlicher Zusammenhang besteht“, erläutert Autorin Lisa Oswald von der Hertie School in Berlin. Deshalb nahm das Team Artikel mit kausalen Belegen besonders in den Blick.

„Um die Rolle der sozialen Medien in diesem Prozess zu verstehen, haben wir eine systematische Überprüfung der Belege vorgenommen, die soziale Medien mit zehn Indikatoren für demokratisches Wohlergehen in Verbindung bringen: politische Beteiligung, Wissen, Vertrauen, Umgang mit Nachrichten, politische Meinungsäußerung, Hass, Polarisierung, Populismus, Netzwerkstruktur und Fehlinformationen. Wir haben fast 500 Studien über verschiedene Plattformen in Ländern rund um den Globus ausgewertet und konnten einige allgemeine Muster erkennen. Die Nutzung sozialer Medien steht in Zusammenhang mit einer Zunahme des politischen Engagements, aber auch mit einer Zunahme von Polarisierung, Populismus und Misstrauen gegenüber Institutionen.
Unterschiedliche Arten von Beweisen
In unserer Übersichtsarbeit haben wir mehr Gewicht auf Untersuchungen gelegt, die kausale Zusammenhänge zwischen sozialen Medien und Indikatoren für das demokratische Wohlergehen nachweisen, als auf reine Korrelationen.

Korrelationen können interessant sein, aber sie können nicht beweisen, dass irgendein Ergebnis durch die Nutzung sozialer Medien verursacht wird. Nehmen wir zum Beispiel an, wir finden einen Zusammenhang zwischen der Nutzung sozialer Medien und Hassreden. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass Menschen, die Hassreden halten, mehr soziale Medien nutzen, und nicht darauf, dass die Nutzung sozialer Medien Hassreden auslöst.
Kausale Zusammenhänge können auf verschiedene Weise nachgewiesen werden, zum Beispiel durch groß angelegte Feldexperimente. Die Teilnehmer können aufgefordert werden, die Facebook-Nutzung auf 20 Minuten pro Tag zu reduzieren oder Facebook einen Monat lang ganz abzuschalten. (Beide Maßnahmen führten zu einer Steigerung des Wohlbefindens, und der völlige Verzicht auf Facebook verringerte auch die politische Polarisierung erheblich).“

Beim Phänomen der „Echokammern“, also der Problematik, dass Meinungen und Informationen online nur unter Gleichgesinnten ausgetauscht werden, war bislang fraglich, ob es tatsächlich existiert. Nach der aktuellen Untersuchung hängt die Antwort stark davon ab, welche digitalen Medien untersucht wurden. So können im Internet allein keine Echokammern festgestellt werden, innerhalb der Beziehungsnetzwerke in sozialen Medien dagegen schon. Und dort haben sie durch ihre Abgeschlossenheit und mögliche Radikalisierung auch einen negativen Einfluss auf die Demokratie.

Politischer Kontext wichtig

Die Bewertung der Schlüsselfaktoren insgesamt hängt allerdings stark vom politischen Kontext ab. „In unsere Arbeit gingen Studien aus aller Welt ein. So können wir zeigen, wie sich digitale Medien auf politische Systeme im globalen Kontext unterschiedlich auswirken“, sagt Co-Autor Ralph Hertwig, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Was in etablierten Demokratien potenziell destabilisierend wirkt, kann für aufstrebende Demokratie förderlich sein und in autoritären Regimen die Opposition stärken.

Der positive Einfluss digitaler Medien auf die politische Partizipation und die Nutzung von Nachrichten ist in den aufstrebenden Demokratien in Südamerika, Afrika und Asien am deutlichsten ausgeprägt. Die negativen Auswirkungen sind dagegen stärker in etablierten Demokratien wie in Europa und in den Vereinigten Staaten zu beobachten.

„Die Ergebnisse zeigen, dass die Auswirkungen von digitalen Medien weltweit von Bedeutung sind. Die Komplexität der Auswirkungen erfordert aber weitere Forschungsanstrengungen und eine stärkere Synthese“, sagt Co-Author Stephan Lewandowsky, Lehrstuhlinhaber für Kognitive Psychologie an der Universität Bristol. Doch bereits die vorhandenen Forschungsergebnisse zeigten klare Tendenzen und riefen Regierungen und Zivilgesellschaften zur Wachsamkeit auf. Die Wechselwirkungeb zwischen digitalen Medien und Demokratie müssen mehr erforscht und aktiv gegestaltet werden.

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