Conversation hat die Beweise durchkämmt, um das herauszufinden
Es gibt zwei gängige Denkweisen über die Demokratie im Online-Zeitalter. Erstens: Das Internet ist eine Befreiungstechnologie und wird eine Ära der globalen Demokratie einläuten. Zweitens: Man kann soziale Medien oder Demokratie haben, aber nicht beides. Was ist richtiger? Es besteht kein Zweifel, dass die Demokratie weltweit auf dem Rückzug ist. Selbst in vermeintlich stabilen Demokratien kam es in letzter Zeit zu Ereignissen, die mit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit unvereinbar sind, wie etwa der gewaltsame Angriff auf das US-Kapitol 2021.
Um die Rolle der sozialen Medien in diesem Prozess zu verstehen, hat das Magazin The Converation eine systematische Überprüfung der Belege für den Zusammenhang zwischen sozialen Medien und zehn Indikatoren für demokratisches Wohlergehen durchgeführt: politische Beteiligung, Wissen, Vertrauen, Nachrichtenexposition, politische Meinungsäußerung, Hass, Polarisierung, Populismus, Netzwerkstruktur und Fehlinformationen.
Wir haben fast 500 Studien über verschiedene Plattformen in Ländern rund um den Globus ausgewertet und konnten einige allgemeine Muster erkennen. Die Nutzung sozialer Medien steht in Zusammenhang mit einer Zunahme des politischen Engagements, aber auch mit einer Zunahme von Polarisierung, Populismus und Misstrauen gegenüber Institutionen.
Verschiedene Arten von Belegen
In unserer Übersichtsarbeit haben wir mehr Gewicht auf Untersuchungen gelegt, die kausale Zusammenhänge zwischen sozialen Medien und Indikatoren für das demokratische Wohlergehen nachweisen, als auf bloße Korrelationen.
Korrelationen können interessant sein, aber sie können nicht beweisen, dass irgendein Ergebnis durch die Nutzung sozialer Medien verursacht wird. Nehmen wir zum Beispiel an, wir finden einen Zusammenhang zwischen der Nutzung sozialer Medien und Hassreden. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass Menschen, die Hassreden halten, mehr soziale Medien nutzen, und nicht darauf, dass die Nutzung sozialer Medien Hassreden auslöst.
Kausale Zusammenhänge können auf verschiedene Weise nachgewiesen werden, zum Beispiel durch groß angelegte Feldexperimente. Die Teilnehmer können aufgefordert werden, die Facebook-Nutzung auf 20 Minuten pro Tag zu reduzieren oder Facebook einen Monat lang ganz abzuschalten. (Beide Maßnahmen führten zu einer Steigerung des Wohlbefindens, und der völlige Verzicht auf Facebook verringerte auch die politische Polarisierung erheblich).
Mehr Engagement, mehr Polarisierung
In den 496 von uns untersuchten Artikeln, von denen die meisten eher korrelativ als kausal sind, fanden wir eine Mischung aus positiven und negativen Auswirkungen. Wie so oft in der Wissenschaft ist das Muster kompliziert, kann aber dennoch interpretiert werden.
- Auf der positiven Seite fanden wir heraus, dass die Nutzung digitaler Medien mit einem höheren politischen Engagement und einer größeren Vielfalt an Nachrichten verbunden ist. So ergab eine Studie in Taiwan, dass die informationsorientierte Nutzung sozialer Medien die politische Beteiligung erhöht. Dies war jedoch nur dann der Fall, wenn die Nutzer glaubten, dass der Einzelne die Politik durch Online-Aktionen beeinflussen kann.
- Auf der negativen Seite fanden wir beträchtliche Belege für Auswirkungen wie die Förderung von Polarisierung und Populismus und die Verringerung des Vertrauens in Institutionen. Die Auswirkungen auf das Vertrauen in Institutionen und Medien waren besonders ausgeprägt. Es hat sich gezeigt, dass die Nutzung digitaler Medien während der Pandemie mit einer zögerlichen Haltung gegenüber der COVID-19-Impfung einhergeht.
- Ein weiteres negatives Ergebnis der Nutzung sozialer Medien in einer Reihe von politischen Kontexten und auf verschiedenen Plattformen scheint eine verstärkte politische Polarisierung zu sein.
- Wir fanden heraus, dass eine verstärkte Polarisierung auch damit zusammenhängt, dass man in seinen sozialen Medien Feeds gegenteiligen Ansichten ausgesetzt ist. Mit anderen Worten: Wenn man den Worten der politischen Gegner ausgesetzt ist, überbrückt man die politische Kluft nicht. Vielmehr schien sie sich dadurch zu verstärken.
Verbindungen zur Gewalt
Wir fanden auch einen starken und weitreichenden Zusammenhang zwischen der Nutzung sozialer Medien und Populismus. Eine stärkere Nutzung sozialer Medien führt zu einem höheren Stimmenanteil für populistische Parteien.
Untersuchungen in Österreich, Schweden und Australien haben Belege für einen Zusammenhang zwischen einer verstärkten Nutzung sozialer Medien und einer Online-Radikalisierung der Rechten gefunden. Studien in Deutschland und Russland haben kausale Belege dafür geliefert, dass digitale Medien die Häufigkeit von Verbrechen aus ethnischem Hass erhöhen können.
In der deutschen Untersuchung wurde beispielsweise festgestellt, dass lokale Ausfälle von Facebook (z. B. aufgrund technischer Störungen oder Internetunterbrechungen) zu einem Rückgang der Gewalt an diesen Orten führten. Die Autoren der Studie schätzten, dass 50 % weniger flüchtlingsfeindliche Stimmungen in den sozialen Medien zu einem Rückgang der gewalttätigen Vorfälle um 12,6 % führen würden.
Auffallend war auch die Verteilung der Auswirkungen auf der ganzen Welt. Die positiven Auswirkungen auf die politische Beteiligung und den Informationskonsum waren in den aufstrebenden Demokratien in Südamerika, Afrika und Asien am stärksten ausgeprägt. Negative Auswirkungen waren eher in etablierten Demokratien in Europa und den Vereinigten Staaten zu beobachten.
Keine einfachen Antworten
Um also zum Ausgangspunkt zurückzukehren: Ist das Internet eine Befreiungstechnologie? Oder sind die sozialen Medien unvereinbar mit der Demokratie?
Es gibt keine einfachen Ja- oder Nein-Antworten. Es gibt jedoch Belege dafür, dass digitale Medien das politische Verhalten weltweit beeinflussen. Diese Beweise geben Anlass zur Sorge über die negativen Auswirkungen der sozialen Medien auf die Demokratie.
Facebook, Twitter und andere soziale Medien sind nicht per se unvereinbar mit der Demokratie. Das demokratische Wohlergehen erfordert jedoch, dass Wissenschaftler die sozialen Auswirkungen der sozialen Medien sorgfältig untersuchen. Diese Auswirkungen müssen von Wählern und gewählten politischen Entscheidungsträgern bewertet und reguliert werden, nicht von einer kleinen Clique superreicher Einzelpersonen.
Wir haben bereits kleine, aber wichtige Schritte in diese Richtung unternommen. Der Digital Services Act der Europäischen Union ist einer davon. Ein weiterer ist der vorgeschlagene Platform Accountability and Transparency Act (PATA) in den USA, dessen Schicksal allerdings ungewiss ist.
Es hilft einem, sich mit wichtigen politischen Fragen zu befassen, und macht mit der Vielfalt der Forschung auf dem Kontinent vertraut. Es geht nicht um aktuelle Nachrichten. Es geht nicht um unbegründete Meinungen. Der Europa-Newsletter enthält faktengestütztes Fachwissen von europäischen Wissenschaftlern.
->Quellen:
- theconversation.com/is-the-global-decline-in-democracy-linked-to-social-media-we-combed-through-the-evidence-to-find-out
- mpg.de/19474069
- Originalpublikation: Philipp Lorenz-Spreen, Lisa Oswald, Stephan Lewandowsky & Ralph Hertwig: A systematic review of worldwide causal and correlational evidence on digital media and democracy – in Nature Human Behaviour, https://rdcu.be/c0b54, open access