Phantom Kohlensäure: Und es gibt sie doch!

Neutronen vom FRM II machen Kristallstruktur von Kohlensäure sichtbar

Die Existenz von Kohlensäure war in der Wissenschaft lange umstritten: theoretisch existent, praktisch kaum nachweisbar, denn an der Erdoberfläche zerfällt die Verbindung. Ein deutsch-chinesisches Team hat jetzt an der Forschungs-Neutronenquelle FRM II der Technischen Universität München (TUM) erstmals die kristalline Struktur von Kohlensäuremolekülen sichtbar gemacht und am 22.11.2022 in mdpi.com open access publiziert.

Forschungslabor – Foto © Gerhard Hofmann, Agentur Zukunft, für Solarify

Jeder glaubt sie zu kennen, und doch ist sie eines der großen Geheimnisse der Chemie: Kohlensäure. Niemand hatte bisher je die Molekülstruktur der Verbindung aus Wasserstoff, Sauerstoff und Kohlenstoff mit der chemischen Summenformel H2CO3 gesehen. Die Verbindung zerfällt – zumindest an der Erdoberfläche – schnell in Wasser und Kohlendioxid beziehungsweise reagiert zu Hydrogenkarbonat, einen Stoff, der ebenso zerfällt und Sprudel oder Champagner das typische Pricken verleiht. „Weil man nicht glaubt, was man nicht sieht, behaupten die Chemielehrbücher in aller Regel, dass es Kohlensäure nicht gibt, oder zumindest, dass sie nicht zweifelsfrei isoliert wurde “, erklärt Prof. Richard Dronskowski, Direktor des Instituts für Anorganische Chemie der RWTH Aachen.

Zusammen mit seinem Team an der RWTH und dem chinesischen Hoffmann Institute for Advanced Materials (HIAM) in Shenzhen ist es ihm jetzt erstmals gelungen, kristalline Kohlensäure herzustellen und ihre Struktur zu analysieren. Die Lehrbücher müssen also umgeschrieben werden.

Acht Jahre haben die Forscher für den Nachweis benötigt. „Unsere computergestützten Berechnungen hatten zunächst ergeben, dass man zur Handhabung tiefe Temperaturen von minus 100 Grad Celsius braucht und dass dann ein Druck von etwa 20.000 Atmosphären notwendig ist, damit sich aus Wasser und Kohlendioxid Kohlensäure-Kristalle bilden. Daher mussten wir eine Apparatur konzipieren und bauen, die extremen Bedingungen standhält“, berichtet Dronskowski. Die Wände der Messzelle, die nicht größer ist als eine Parfümflasche, bestehen aus einer eigens gefertigten Metalllegierung, ein Diamantfenster erlaubt einen Blick ins Innere. In dieser Zelle wurde ein Gemenge aus Wassereis und festem Kohlendioxid (sogenanntes Trockeneis) mit Hilfe einer Presse unter Druck gesetzt. Tatsächlich bildeten sich unter diesen extremen Bedingungen Kristalle.

Mit Neutronen besser sehen

Um mehr über deren Zusammensetzung und Struktur zu erfahren, reiste das Team mitsamt der Messzelle nach München an den FRM II: „Wir brauchten für die Untersuchung unbedingt Neutronenstrahlen“, erinnert sich Dronskowski. „Röntgenstrahlen wechselwirken mit den Elektronen der Atome. Neutronen hingegen interagieren mit den Kernen, daher kann man mit ihnen auch sehr leichte Atome, beispielsweise Wasserstoff, der nur ein Elektron enthält, sichtbar machen – das war für uns essenziell, weil unsere Kristalle Wasserstoff enthalten. Wir mussten wissen, wo die Wasserstoffatome im Molekül liegen.“

Um mit Hilfe von Neutronenstrahlen die atomare Struktur eines Kristalls zu untersuchen, benötigt man extrem empfindliche Messgeräte, wie beispielsweise das STRESS-SPEC Diffraktometer. Es wurde entwickelt, um Verschiebungen im Kristallgitter sichtbar zu machen, die durch Spannungen verursacht wurden. Für die Messung wird aus dem Neutronenstrahl, der aus dem Forschungsreaktor FRM II kommt, mittels eines Monochromators eine bestimmte Wellenlänge selektiert. Diese monochromatische Strahlung lässt sich dann durch spezielle Blenden so ausrichten, dass man nur auf die Probe im Inneren der Messzelle fokussiert, erklärt TUM-Mitarbeiter und Gruppenleiter am FRM II, Dr. Michael Hofmann: „Auf diese Weise können wir sehr kleine Probenvolumina in einer sehr hohen Auflösung untersuchen – das war für die Analyse der Probe aus Aachen, die ja nur einige Kubikmillimeter groß war, ideal.“ Trifft der monochromatisierte Neutronenstrahl auf einen Kristall, wird er durch die Wechselwirkung mit den Atomen abgelenkt. Auf diese Weise entsteht ein Beugungsmuster, aus dem sich dann – zumindest theoretisch – die Struktur des Kristallgitters ableiten lässt.

Das Struktur-Puzzle

„Praktisch war die Auswertung der Messdaten eine echte Herausforderung“, erinnert sich Dronskowski. Die Forscher benötigten über zwei Jahre, um mit ihren Algorithmen tausende von Strukturmöglichkeiten zu ermitteln und diese mit dem experimentellen Resultat zu vergleichen. Auf diese Weise gelang es schließlich, die Struktur der Kristalle zu identifizieren, die sich im Inneren der Messzelle gebildet hatten: Sie bestehen tatsächlich aus H2CO3-Molekülen, die durch Wasserstoff-Brücken miteinander verbunden sind und eine niedrigsymmetrische – in der Fachsprache „monokline“ – Struktur bilden.

„Unsere Arbeit war in erster Linie Grundlagenforschung: Chemiker müssen das einfach wissen, sie können nicht anders. Aber jetzt, wo wir die Umstände kennen, unter denen sich Kohlensäure bildet, sind praktische Anwendungen denkbar“, betont Dronskowski. So können Kosmologen künftig, wenn sie auf fernen Planeten oder Monden Spuren von Kohlensäure finden, auf die Bildungsbedingungen rückschließen. Interessant könnten die Ergebnisse auch für das Geoengineering sein: So lässt sich erst jetzt berechnen, wann Kohlendioxid, das unter hohem Druck in den feuchten Untergrund gepresst wird, unter Umständen Kohlensäurekristalle bildet.

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