Schadhafte AKW sollen trotzdem hochgefahren werden – dagegen formiert sich länderübergreifender Widerstand
Es sieht so aus, als hätten die belgische Atombehörde FANC oder der Energieversorger Electrabel jahrelang die Öffentlichkeit über das Ausmaß von Schäden in ihren zwei Kernkraftwerken Doel und Tihange getäuscht. Dies und der drohende Neustart der beiden Atommeiler schlägt hohe Wellen. Die belgische Atomaufsicht hat ihre bereits getroffene Anschalt-Entscheidung jetzt um fünf Monate hinausgeschoben und neue Untersuchungen gefordert. Der Aachener Stadtrat verabschiedete in großer parteiübergreifender Einmütigkeit eine Resolution zur endgültigen Stilllegung.
Bei einer seit Anfang Juni 2012 laufenden Routineinspektion mit neuen Ultraschall-Messgeräten waren im August 2012 in zwei Reaktordruckbehältern (RDB) von Doel und Tihange tausende Risse entdeckt worden. Noch vor dem Ende der Prüfungen wurden die mehr als 30 Jahre alten Reaktoren im Juni 2013 wieder an-, aber 2014 erneut heruntergefahren: Die Prüfergebnisse waren extrem schlecht. Nun wollte Electrabel die beiden Blöcke wieder anschalten. Der Widerstand – vor allem wegen der ungeschickten Informationspolitik – ist groß.
Schon 2006 wiesen Greenpeace-Aktivisten mit der Anbringung eines symbolischen Risses am AKW Tihange auf die Unsicherheit alter Kraftwerke hin
Greenpeace 2015: Die Entdeckung Tausender neuer Risse an den belgischen AKW-Blöcken Doel 3 und Tihange 2 könnte ernste Konsequenzen für alle Atomkraftwerke weltweit haben. Das ist die Einschätzung zweier renommierter Materialwissenschaftler. Ein bisher unbekanntes Phänomen der Materialermüdung könnte die Risse verursacht haben – davon wären möglicherweise auch deutsche AKW betroffen.
„Globales Problem der Atomkraftwerke“
„Wie so oft bei Atomkraftwerken wurde die Tragweite des Problems offensichtlich verkannt“, sagt Heinz Smital, Kernphysiker und Atomexperte von Greenpeace. „Es ist dringend notwendig, die Risse im Metall ernster zu nehmen als bisher und weltweit umfangreiche Untersuchungen durchzuführen.“ Jan Bens, Direktor der ‚Federal Agency for Nuclear Control‘ (FANC), misst den Aussagen der Wissenschaftler große Bedeutung bei: „Das könnte ein globales Problem der Atomkraftwerke sein“, sagte Bens in einem Interview im belgischen TV Die Lösung sei, weltweit umfangreiche Inspektionen aller Atomkraftwerke durchzuführen. Greenpeace fordert nun, sämtliche 439 Reaktoren in der ganzen Welt genau zu überprüfen.
Über 13.000 Risse an marodem Meiler-Block
Rund 13.047 Risse wurden insgesamt an den Stahldruckbehältern von Doel 3 gefunden, bei Tihange 2 waren es 3.149 Risse. Dies veröffentlichte die belgische Atomaufsicht im Dezember letzten Jahres. Bereits im Jahr 2012 waren die Schäden an den Behältern erstmals entdeckt worden. Experten deuteten die Risse als Fehleinschlüsse in der Herstellung des Reaktors, sogenannte Wasserstoff-Flocken. AKW-Stahldruckbehälter beinhalten den Reaktorkern und hochradioaktiven Kernbrennstoff – sie dürfen deshalb unter keinen Umständen brüchig werden. Tihange liegt nur 70 Kilometer entfernt von Aachen. Ein atomarer Unfall an dem Pannen-Meiler hätte also auch für Deutschland gravierende Folgen. Greenpeace hat in Belgien auf die Herausgabe aller Untersuchungsdokumente geklagt – und das Verfahren im Januar gewonnen. Die belgische Atomaufsicht verweigert jedoch bisher die Übergabe mit der Begründung, die Papiere zunächst auf etwaige Verschlusssachen überprüfen zu müssen.
Folgt: Risse schon 1979 entstanden – aber beschleunigte Versprödung