Klimaschutz hat Nachsehen
Weil Deutschland 2015 so viel Strom exportiert wie nie zuvor (mehr als 83 Mrd. kWh gegenüber 33 Mrd. kWh Import), darunter vor allem schmutzigen Kohlestrom, geraten die Klimaschutzziele der Bundesregierung immer mehr in Gefahr. Umweltministerin Hendricks kritisiert denn auch den Export-Rekord scharf: „Unsere Klimaschutzfortschritte werden zunichte gemacht“, sagte sie in einem Interview mit SPIEGEL ONLINE.
Laut aktuellen Zahlen der AG Energiebilanzen hat Deutschland 2015 im Saldo 50 Milliarden Kilowattstunden Strom mehr in andere Länder exportiert als aus dem Ausland eingeführt – etwa so viel wie ein Drittel der gesamten deutschen Braunkohle-Stromerzeugung.
Jakob Schlandt auf phasenpruefer: „Der Stromexport hat 2014 erneut knapp einen Rekord aufgestellt. Er lag bei rund 74 TWh, gut 2 TWh mehr als 2013. Im Vergleich zum Jahr des Atomausstiegs 2011 ist das ein drastischer Anstieg um rund 20 TWh. Importiert wurden dagegen nur knapp 38 TWh. Der Überschuss lag damit bei 36 TWh, was etwa dem halben Stromverbrauch Österreichs entspricht. Oder, anders betrachtet: Es wird fast doppelt soviel ex- wie importiert. Die Stromleitungen ins Ausland sind keine Einbahnstraßen (bis auf die Leitungen in die Niederlande, die fast nur zum Export dienen), aber der Gegenverkehr ist deutlich dünner. Zum Vergleich: Seit dem Jahr 2011, als die ältesten acht Atommeiler zwangsabgeschaltet wurden, hat sich der Exportüberschuss versechsfacht. Historisch betrachtet sind solche Zustände in ihrer Größenordnung allerdings auch nicht gänzlich unbekannt: 2006 lag der Exportüberschuss bei rund zwei Dritteln des heutigen Wertes.“
Weil Wind-, Solar- und Biogasanlagen immer mehr klimafreundlichen Strom in die Netze einleiten, müssten Kohlekraftwerke eigentlich ihre klimaschädliche Stromproduktion entsprechend drosseln. Nachdem aber gerade alte Braunkohle-Dreckschleudern so günstig Elektrizität erzeugen, dass sich ihr Betrieb auch bei einem Überangebot und entsprechend niedrigen Strombörsenpreisen rechnet, lassen die Betreiber sie oft voll durchlaufen.
Die Bundesregierung will die CO2-Emissionen bis 2020 gegenüber 1990 um 40 Prozent verringern. Dieses Ziel wird sie aber nach derzeitigen Prognosen verfehlen. „Die Überkapazitäten bei den Kohlekraftwerken bieten ein sehr großes Potenzial für weitere deutliche Emissionsminderungen“, sagte Hendricks. Sie verteidigte im SPIEGEL-Interview den nach dem Scheitern der CO2-Abgabe geborenen Notbehelfs-Plan, bis 2022 mit 1,6 Milliarden Euro Steuergeld acht alte Braunkohleblöcke stillzulegen: „Dieser Weg ist nicht nur klimapolitisch geboten, er ist auch ohne Engpässe bei der Stromerzeugung problemlos möglich“, sagte Hendricks.
Leitungsausbau dient mehrheitlich der Vorbereitung von mehr Kohlestromeinspeisung, wies der Wiesbadener Wirtschaftsprofessor Lorenz Jarass schon anhand des Netzentwicklungsplans 2013 nach. Seine These vor zwei Jahren: Kohlekraftwerke sollen auch bei Starkwind weiter einspeisen können – und es solle mehr exportiert werden. Bundesnetzagentur und Netzbetreiber arbeiteten nach dem Prinzip des „marktgetriebenen Kraftwerkseinsatzes“. Grundfrage sei dabei: Welche Kraftwerke haben die geringsten Grenzkosten (variable Kosten)? Wenn dafür neue Leitungen gebraucht würden, gingen die Kosten nicht in die Planung ein; diese zahlten die Verbraucher. Auf Betreiben der Netzbetreiber sei festgeschrieben worden, dass der Ausbau wirtschaftlich zumutbar sein müsse. Das stehe im Gegensatz zum gesetzlichen Gebot der Netz-Einspeisungsmöglichkeit jeder einzelnen kWh erneuerbarer Energie – und somit auch „zum gesunden Menschenverstand“. Jarras weiter: „Es geht bei dem übertriebenen Netzausbau also eigentlich darum, dass die Kohlekraftwerke bei starkem Wind nicht vom Netz genommen und heruntergefahren werden müssen“, kritisiert Jarass (auch) in seinem gemeinsam mit Gustav Obermair veröffentlichten Buch „Welchen Netzumbau erfordert die Energiewende?“ „Der ganze Strom, der da transportiert werden soll, kann im Süden gar nicht verbraucht werden“, konstatiert Jarass, er solle vielmehr ins Ausland verkauft werden. Der Stromexport habe sich im Vergleich zu 2011 vervierfacht. Deshalb favorisierten die Kohle-Verstromer den Netzausbau so eindeutig. Ein Ziel der Energiewende – Reduzierung der Kohlendioxid-Emissionen durch den verminderten Einsatz fossil befeuerter Kraftwerke – würde damit allerdings konterkariert.
Fachleute halten die Pläne der Regierung für zu wenig ambitioniert. Die deutschen Klimaziele seien trotz der neu angestoßenen Maßnahmen noch immer gefährdet, heißt es im Ende November vorgelegten 4. Monitoringbericht „Energie der Zukunft“.
Energy Brainpool hatte im Mai 2015 die Auswirkungen untersucht, wie der europäische Strommarkt auf eine Reduzierung der Überkapazitäten bei Kohlekraftwerken reagieren würde. Dafür simulierte eine Studie für Greenpeace, dass nicht benötigte, alte und CO2-intensive Kohlekraftwerke mit einer Leistung von insgesamt 15 GW aus dem Strommarkt in eine strategische Reserve wandern. Diese Kraftwerke werden nicht benötigt. Sie produzieren vornehmlich für den Export. 15 GW entsprechen beinahe der Hälfte aller deutschen Braunkohlekraftwerke und einem Fünftel der Steinkohlekraftwerke. Sie kämen nur dann zum Einsatz, wenn nicht genügend Strom am Markt verfügbar wäre. Im Jahr 2015 würden die Reservekraftwerke nach dem errechneten Szenario nicht gebraucht. Auch im Jahr 2023, in dem alle Atomkraftwerke abgeschaltet sind, werden lediglich vier Gigawatt Reservekraftwerke in sechs Stunden des Jahres benötigt. Das zeigt: Viele Kohlekraftwerke können direkt abgeschaltet werden und müssen nicht als Reserve vorgehalten werden.
->Quellen: