Hendricks-Rede vor Bundestag: In der einstigen Großstadt Tschernobyl leben heute 150 Menschen
Am 29.04.2016, drei Tage nach dem Jahrestag des Super-Gaus von Tschernobyl, hielt die Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit, Barbara Hendricks, eine Rede vor dem Deutschen Bundestag in Berlin, in der sie auf die Risiken der Atomkraft einging. Am 22.03. hatte sie in Tschernobyl der Opfer der Katastrophe gedacht. Solarify dokumentiert die Rede.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren!
Die Geschichte der Atomkraft war an ihrem Beginn eine Geschichte großer Euphorie. Ihre enormen Risiken wurden erst unterschätzt, dann heruntergespielt und sind erst Stück für Stück in das öffentliche Bewusstsein eingedrungen. Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, an die wir in dieser Woche erinnern, ist einer der Wendepunkte dieser Geschichte. Sie zeigt: Das Risiko der Atomkraft ist nicht nur eine theoretische Größe. Die Katastrophe ist eingetreten mit verheerenden Konsequenzen.
Ich war vor wenigen Wochen in Tschernobyl. Ich habe dort den Fortschritt der Arbeiten gesehen, die dazu dienen, den verunglückten Reaktor mit einer neuen Schutzhülle zu überziehen. Das ist eine ingenieurtechnische Meisterleistung, die dort vollbracht wird. Die Schutzhülle kostet ungefähr zwei Milliarden Euro. Insgesamt 45 Länder, darunter Deutschland, beteiligen sich an diesen Kosten. Russland ist auch dabei; das muss man, finde ich, in diesem Zusammenhang erwähnen.
Sarkophag hält nicht länger als 100 Jahre
Gleichwohl erwartet niemand, dass diese Hülle länger als 100 Jahre hält. Die vor 30 Jahren notdürftig angebrachte Hülle kommt an ihre Grenze; ihre Lebensdauer wurde auf 20 bis 30 Jahre geschätzt. Die jetzt neu anzubringende große Hülle soll, wie gesagt, etwa 100 Jahre halten, in der Hoffnung und Erwartung, dass in dieser Zeit die Menschen, die nach uns kommen, technologische Kenntnisse haben, die wir jetzt noch nicht haben und die dann helfen würden, mit dem umzugehen, was dort für immer eine Gefahr darstellt.
An dieser Stelle sehen Sie, was es bedeutet, wenn ein großer Unfall geschieht. Die Natur hat sich die gesperrte Region zurückerobert. Die Menschen dürfen in einem Umkreis von 30 Kilometern nie mehr siedeln. Gleichwohl arbeiten Menschen natürlich an diesem Reaktor. Sie arbeiten dort zwei Wochen und sind dann zwei Wochen zu Hause. In dem Ort Tschernobyl leben diese Arbeiterinnen und Arbeiter in den zwei Wochen ihrer Arbeit. Etwa 150 Menschen sind in ihre Heimatstadt Tschernobyl, die etwa zehn Kilometer von dem Reaktor entfernt liegt, zurückgekehrt. Diese 150 Menschen, die eigentlich widerrechtlich dort leben, haben gesagt: Wir sind älter, wir werden sowieso sterben, wir wollen in unserer Heimat sterben. – Das ist die Lage, mit der man es jetzt, 30 Jahre nach dem Unfall, dort zu tun hat.
Gespenstische Atmosphäre
Die Stadt war einmal von etwa 200.000 Menschen bewohnt, und sie war damals eine sozialistische Musterstadt: alles neu, alles modern, Kulturhäuser, Schwimmbäder. Am 1. Mai, also fünf Tage nach dem Unfall, sollte ein großer Vergnügungspark eröffnet werden, der nun aber nie genutzt wurde. Da stehen jetzt überwucherte Autoskooter und Riesenräder. Es ist in der Tat eine total gespenstische Atmosphäre.
Die Menschen, die gerne dort gelebt haben, weil es für junge Familien sehr angenehm war, wurden evakuiert – eigentlich ein paar Tage zu spät –, sind mit Bussen in viele verschiedene Richtungen weggebracht worden und haben sich nie wieder getroffen; denn sie sind in der großen Sowjetunion an verschiedenen Orten untergebracht worden. Menschenleer und still ist heute also, was einmal eine Stadt war.
Es gibt Ereignisse, die brennen sich in unser Gedächtnis ein: die Aufnahmen aus dem Hubschrauber, die den brennenden Reaktorkern zeigen, die Strahlenmessungen am Boden und auch an Lebensmitteln hier bei uns, später dann die Geschichten von den Feuerwehrleuten, den Kraftwerksmitarbeitern und den Soldaten, die bei dem Versuch, die Katastrophe einzudämmen, dem Tod ins Auge sahen. Ich habe einen Kranz an der Gedenkstätte niedergelegt. Dort wird 23 Männern gedacht, die alle schon am 6. Mai, also weniger als zehn Tage nach dem GAU, tot waren.
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